Déjà-vu
Wieder stand eine Mauer des Schweigens im Raum, nur durchbrochen von dem Rascheln zartestem Stoffs. Sie trug ihr altes Kostüm. Ein spitzengeklöppeltes Kopftuch fiel wie ein goldener Schleier an den Seiten herab, kupferne Münzen klimperten auf ihrer Stirn.
Heimlich sah er auf und hätte ihr am Liebsten eine weiße Strähne von der Wange gestrichen, doch Dirk wagte nicht, seine Hand zu erheben. Ihm schien, als befände er sich bereits in der Ewigkeit.
Schließlich begann sie zu sprechen. "Du weißt, ich habe immer an deine Unschuld geglaubt."
Ihre faltigen Hände tasteten unentwegt über die schwarze Ebenholzplatte, als suche sie Antwort in den Runen, die in den Tisch eingeschnitzt waren.
Dirk nickte stumm. In der Tat wusste er, dass sie die Einzige war, die für ihn gesprochen hatte, als niemand mehr an ihn glaubte. Alle hatten bezahlt für sein Versagen, einige der Artisten sogar mit ihrem Leben.
Doch auch wenn Nounoka ihm und Manuela eines Tages verziehe: Er selbst könnte es nie! 'Meine Karriere ist auf Leichen gebaut', dachte er und krampfte seine Hände ineinander. Für einen Moment verzerrte sich sein gebräuntes Antlitz zu einer gequälten Fratze. Ein Hauch wehte durch das Innere des Planwagens und streifte sanft seine Wange. Irritiert sah er in Nounokas Gesicht, doch sie war in ihre Studien vertieft und schien weit von ihm fort.
Aus verborgenen Lautsprechern erschollen plötzlich wispernde Stimmen, die sich mit ihrer vermählten. "Was ist mit eurem Kind?", fragte sie leise, so leise, dass er sie kaum verstand. " Warum ist es nicht mehr bei dir?"
Überrascht fuhr er auf. "Woher weißt du das?" Er hätte nicht gedacht, dass es überhaupt schon jemand wusste, geschweige denn Nounoka und ihre Familie, die er aus seinem Leben verbannt hatte, um sie zu schützen.
Die Alte seufzte. "Schau hin und sieh selbst." Die große Kristallkugel in der Mitte des Tischs wechselte ihre Farben in Nacht. Blitze zuckten ekstatisch in ihr.
Als die Effekte sich allmählich beruhigten, verjüngte sich das gefurchte Antlitz der alten Wahrsagerin vor Dirks Innerem Auge. Ihr weißes, dünnes Haar wurde voller, und plötzlich ähnelte sie ihrer Enkelin sehr. Silberne Strähnen schimmerten in langem Schwarzhaar, und sie trug ein bordeauxrotes Seidenkostüm.
In sanften Wellen kehrte der erste Tag ihres Kennenlernens zu ihm zurück. Mit seinem alten VW Bus hatte alles begonnen. Manuela war sechzehn gewesen, er neunzehn und auf der Durchreise nach irgendwohin, wie stets. Ihn hielt es nie lange an einem Ort.
Die alte Zigeunerin beobachtete Dirks Mienenspiel. "Wagst du es, bis zum Ursprung zu gehen?", fragte sie. Er nickte und senkte den Kopf. "Schließ deine Augen", hörte er ihre murmelnde Stimme. Widerwillig gehorchte Dirk Mainau und ließ sich von Nounoka entführen. Plötzlich befand er sich in ihrer Kugel und in seiner verdrängten Vergangenheit!
♦ ♣ ♦
Dreizehn Jahre zuvor
Die Welt ist rund ...
Autogeräusche ...
Der Asphalt biegt sich auf unter den Füßen: Dirk hat Angst, dass er fällt. Im Hintergrund hört er das stotternde Tuckern seines Bullis, er steht auf der Straße.
Der Verkehr wogt um ihn herum, keiner ist bereit, ihm zu helfen. Verzweifelt wirft er einen Blick durch das hintere Fenster, sieht seine Matratze da liegen, seine paar Habseligkeiten, und er hofft, dass sein alter Bus es noch einmal schafft. Doch dann erstirbt der Motor, und er weiß: Er hat nun auch kein Obdach mehr.
Der Junge dreht sich im Kreis, sein Blick wirkt gehetzt. Überall Straßen, er fühlt sich wie ein gefangenes Insekt in einem Spinnennetz. Lautes Hupen betäubt seine Ohren, schräge Blicke aus Fenstern, Schnee fällt auf ihn ...
Seltsamerweise ist ihm nicht kalt. Er sieht Eis auf dem Gehweg, Menschen, die ihm entgegen schlittern, doch sind ihre Gesichter verzerrt. Ein diffuser Schleier liegt auf der Welt um ihn herum, etwas wie silberner Nebel.
Nein, es wird wieder Nacht. Nun erinnert er sich ganz genau: Es war bereits dunkel.
Spätdämmerung einen Tag vor Silvester vor dreizehn Jahren. Eine murmelnde Stimme begleitet ihn in seinem Kopf, weist ihm den Weg in eine Gasse hinein. Etwas zieht ihn an wie ein Magnet. Es ist fröhliches Stimmengewirr, genau wie heute, als Dirk Mainau erneut auf sie stieß. Ebenfalls wie damals spürt er den magischen Sog ihrer Kugel.
Dieses Drehen ...
Er wünscht sich, dass dieses Drehen aufhört ...
Er sieht schwankende Hauswände in engen Gassen, zarte Wiesenränder mit silbern glänzenden Hügelchen Matsch bedeckt ...
Ein trauriger Schneemann am Straßenrand, er hat einen Besen in seiner Hand. Eistränen laufen ihm übers Gesicht, ihm ist zu warm. Der Winter war milder als all die Jahre zuvor, doch Dirks Bus hat ihn nicht überlebt.
Der Besen des Schneemann scheint in eine Richtung zu weisen. Da der junge Dirk sowieso nicht weiß, wohin er gehen soll, folgt er dem Wink und läuft dem Schicksal direkt in die Arme. Seine Welt wandelt sich von Silber in Gold.
♦ ♣ ♦
"Erinnerst du dich?", insistierte die alte Wahrsagerin. "Deine Bella Akazia lief dir direkt in die Arme."
Dirk wehrte ab. "Ich möchte nicht mehr daran denken. Sie gehört nicht mehr zu meinem Leben."
Die Zigeunerin seufzte. "Wie ich sehe, hast du noch nicht begriffen. Wenn du deinen Ursprung verleugnest, wirst du auch nie bereit für die Zukunft sein."
"Ich hab keine Zukunft", murmelte er dumpf in sich hinein. "Ich lebe für meine Tochter im Heute und Jetzt."
'Heute und jetzt' ...
'Heute und jetzt' ...
"Heute und jetzt", hallte es laut in ihm nach. Für einen kurzen Moment war er wieder bei sich, doch mit einem eleganten Fingerzeig schickte ihn Nounoka zurück. "Schlaf weiter, mein Prinz!"
Er spürte einen warmen Körper in seinen Armen, lange Haare umhüllen wie Weißgoldlametta ein zartes Mädchengesicht. Ihre Wangen sind fröhlich gerötet.
"Irgendwie siehst du verloren aus", hört er eine Stimme, so hell wie ein Silberglöckchen.
'Welch lieblicher Engel', denkt er und wünscht sich, sie möge niemals entweichen. Nun ist Dirk wieder der Junge, arm und obdachlos auf seinem Schicksalsweg. Die Atmosphäre der kleinen Stadt hält ihn umfangen und scheint ihn verzaubern zu wollen.
Es ist einen Tag vor Silvester, und noch immer sind die Häuser geschmückt. Tannengirlanden und Lichter, Kerzen in Fenstern, in naher Ferne eine menschliche Krippe ...
Manuela führt ihn dorthin. "Was ist passiert?", fragt sie. "Erzähl es mir, und vielleicht kann meine Familie dir helfen." Fest hält sie ihn an der Hand.
Dirk folgt ihr gebannt wie in einem Traum. Er vernimmt die Stimme des Jungen, verunsichert, schüchtern und stammelnd: "Mein Wagen ... Ist stehengeblieben."
Tränen schießen ihm in die Augen.
Verdattert bleibt sie stehen und dreht sich zu ihm um. Erstaunt schaut sie ihn an. "Und deshalb weinst du?", fragt sie. Ein Mann läuft in die beiden hinein, entschuldigt sich und hastet dann weiter.
Der Junge schluchzt auf: "Nein, aber mein Haus ist kaputt. Ich weiß nicht, wo ich hin soll."
Der Weißgoldengel legt eine Hand auf seine Wange. "Dein Wagen bleibt stehen, dein Haus ist kaputt", zählt sie mit liebevollem Spott in der Stimme auf. "Das ist in der Tat ein Grund für deine Tränen." Leicht zieht sie an seiner Hand und führt ihn weiter durch die enge Gasse. Zielstrebig hält sie auf eine golden leuchtende Laterne an deren Ende zu. Vor ihren Augen öffnet sich ein weiter Platz, und Dirk sieht die menschliche Krippe noch einmal.
"Aber ... aber du verstehst nicht", braust er auf und wird für einen kurzen Moment zu dem späteren Mann. "Mein Auto, das ist mein Haus."
Wütend wischt er sich übers Gesicht. Seine Hand hinterlässt einen schwarzen Streifen auf seiner Wange.