• Hallo Fremder! Neu im Forum?
    Habe ich dich hier schon mal gesehen? Um dich hier aktiv zu beteiligen, indem du Diskussionen beitrittst oder eigene Themen startest, brauchst du einen Forumaccount. REGISTRIER DICH HIER!

Nounoka: Die Prophezeiung (eine Geschichte)

  • Themenstarter Gelöschtes Mitglied 26332
  • Startdatum

Gelöschtes Mitglied 26332

Vorwort

"Wenn dich beim ersten Sonnenstrahl ein magisches Lächeln trifft, erfüllt sich dein Schicksal. An jenem Tag musst du dich bewähren, denn du hast eine Mission. Bei Sonnenuntergang ist die Zeit abgelaufen." So würde er es erfahren, und von da an stünde sein Leben Kopf.
Dirk Mainau ist ein Erfolgsmensch, doch war er das nicht immer. Er wurde gedrillt in einem Wirtschaftssektor, in dem Skrupellosigkeit eher Tugend denn Laster ist.
Dass auch Grausamkeit scheinbar vonnöten sei, ging auch an ihm nicht spurlos vorbei. Im Immobiliengeschäft gab es Heuschrecken en más.
Er hatte damit zu tun. Sein Privatleben war wegen seines Jobs auf der Strecke geblieben, und sein erzwungener Ehrgeiz hatte sich schließlich gerächt. Seit Kurzem war er geschieden.
Wie groß sein Anteil am Scheitern seiner Ehe war? Diesen Gedanken schob er weit von sich weg, ebenso wie einen Traum, den er mit der Liebe seines Lebens ehemals lebte.
Dass man jedoch vor seiner Vergangenheit nicht weglaufen kann: Das sollte er in naher Zukunft bitter erleben!
 

Gelöschtes Mitglied 26332

Erstes Kapitel: Nounoka

Wer glaubt schon an Prophezeiungen, Hellseherei und Wahrsager-Sprüche? Romantischer Schnickschnack für Liebespaare oder Lebenshilfe für Verzweifelte: So hatte er das immer gesehen. Krampfhaft versuchte der attraktive Mann - Anfang Dreißig - die verführerische Musik zu überhören, die ihn zu rufen schien.
Dirk Mainau stand frierend und in einer kleinen Menge geborgen auf dem verschneiten Marktplatz von Saulgau. Von irgendwoher vernahm er das Tuckern eines alten Rasentraktors, begleitet von dem zarten Klingeln kleiner Glöckchen und feurigen Handschlägen auf die Haut eines Tamburins. Orientalisch anmutende Flötentöne zogen ihn zusätzlich in Bann und führten ihn geradewegs in eine längst vergangene Zeit, die er in der Regel lieber vergaß. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er vergeblich versuchte, einen Blick zu erhaschen.
Unwirsch schob er zwei anonyme Leiber zur Seite und drängelte sich rücksichtslos zwei Reihen weiter nach vorn. Geflissentlich überhörte Dirk Mainau die Schimpfwörter, die ihm daraufhin folgten. Hauptsache, die Sicht war nun frei!

♦ ♣ ♦

Einen Tag vor Silvester ...

Der Planwagen der Wahrsagerin hatte etwas Einzigartiges in all seiner beabsichtigten Schlichtheit. Mittlerweile war er völlig zerschlissen, die ehemals weiße Plane der runden Umhüllung war ergraut und hatte Löcher. Verblichene Goldborten säumten den verschlossenen Eingang, und ein schwerer Duft von Räucherkerzen lag über dem noch immer weihnachtlich beleuchteten Platz. Die Abenddämmerung brach bereits in den späten Nachmittagsstunden über die Kleinstadt herein.
Es war ein Markttag. Ringsum bauten die Händler bereits ihre Stände ab, packten leere Kisten in ihre Transporter oder versuchten noch den einen oder anderen Ladenhüter lautstark an den Mann zu bringen. Niemand scherte sich drum, Saulgau hatte an diesem Tag eine andere, höchst seltene Attraktion. Dass eine Gauklertruppe in einer schwäbischen Kleinstadt unangekündigt ihre Zelte aufschlug, zog nicht nur Dirk Mainau an wie ein Magnet.
Es war ein seltsames Szenario, das sich dem Publikum bot. Wo früher ein kohlrabenschwarzer Ackergaul vor den Planwagen der Gaukler gespannt worden war, tuckerte heute ein kleiner Traktor unentschlossen vor sich hin. Es saß niemand drauf.
Stattdessen kauerte eine alte Frau auf dem vereisten Stein und brabbelte mit geheimnisvollen Gesten in Dirk Mainaus Richtung. Neben ihr stand eine schwarzhaarige junge Frau und versuchte schimpfend, sie hochzuhieven, indem sie die Alte unter den Achseln gepackt hatte und kräftig zog.
Mit jedem Ruck, bei dem sich der in eine bunte Schürze gehüllte Körper einige Millimeter vom Boden erhob, erscholl zum Amüsement der Passanten kauderwelsches Gezeter aus dem Mund der Greisin. Mit zwingendem Blick sah sie ihn an und bog gebieterisch winkend einen gichtigen Zeigefinger.
Nach all diesen Jahren erkannte Dirk sie sofort. Die alte Zigeunerin gehörte zu seiner Vergangenheit, ebenso wie Manuela Mainau, geborene Claasen. Seine Ex, die es bevorzugt hatte, seinen Namen anzunehmen und auch zu behalten. Es sei für sie das kleinere Übel, hatte Manuela ihm am Tag der Scheidung entgegengeschleudert und verzweifelt ihre langen Haare geschüttelt. "Eine Claasen zu sein ist der Fluch meines Lebens!" Sie hatte beinahe geschrien, als sie ihm das gestand. "Du wolltest das ja nie verstehen."
Als Dirk sie tröstend in den Arm nehmen wollte, riss sie sich los und rannte tränenüberströmt vor ihm davon. Die Erinnerungen an eine stürmische Zeit voller Höhen und Tiefen nahm sie mit sich. Hinterlassen hatte sie ihm Reichtum und Macht, ein versiegeltes Herz und die Sorge um ihre gemeinsame Tochter Simone.
Ein Stoß gegen die Hüfte machte Dirk bewusst, dass er nicht in der Vergangenheit lebte, sondern im Heute und Jetzt. Er nützte die Gelegenheit und kämpfte sich in der Menge noch ein Stück weiter vor, bis er in unmittelbarer Nähe des Planwagens war.
Genau in diesem Moment, als der Blick der alten Zigeunerin ihn traf, wäre er am Liebsten geflohen. Mechanisch wandte er sich zum Gehen um, steif und starr wie ein Roboter. Ein kehliger Ausruf von irgendwoher bannte ihn an Ort und Stelle.
Verhaltenes Gelächter brandete um ihn herum auf. Wie eine von unsichtbaren Fäden gezogene Marionette drehte er sich wieder den Gauklern zu und beobachtete, wie die Alte sich trotz aller Bemühungen ihrer jungen Helferin weigerte, sich zu erheben. Schließlich gab diese es auf, murmelte ihr ein paar Worte ins Ohr und mischte sich unter die Menge. Die schlanken Beine der Zigeunerin waren in enge Hasenfellleggings gehüllt, darüber trug sie einen tiefroten Poncho. Ihr Tamburin klingelte bei jedem Schritt, Zorn stand in ihrem Gesicht.
Zielstrebig kam sie auf Dirk Mainau zu, legte ihm eine Hand auf den Arm und sprach ihn in leicht schleppendem Deutsch an: "Meine Großmutter wünscht Sie zu sprechen."
Mit wiegenden, beinahe tanzenden Schritten ging sie vor ihm her und führte ihn zum hinteren Eingang des Planwagens, wo eine kleine Holzstiege ins Innere führte. "Treten Sie ein. Ich hoffe, dass sie nun zufrieden ist und gleich kommt." Die Mimik der schönen Gauklerin drückte aus, dass sie ganz und gar nicht einverstanden mit seiner Anwesenheit war.
Dirk trat an die Brüstung der Treppe und sah hinab. Der Flötenspieler war mit geschlossenen Augen in sein Spiel vertieft und schien nicht zu bemerken, was um ihn herum alles geschah. Die alte Zigeunerin rappelte sich behände wie ein junges Mädchen vom Boden auf und ging unter dem Gejohle der Menge auf den Planwagen zu.
Ihre Enkelin tippte ihm leicht gegen die Schulter. "Nun gehen Sie schon!" Mit leichtem Druck schob sie ihn weiter, doch er leistete Widerstand. Der Mann drehte sich ihr zu und scannte sie mit einem seltsam vertraulichen Blick ab. "Weshalb so förmlich?", fragte er spöttisch. Er konnte es kaum fassen, wie sehr sie sich verändert hatte.
Ungeduldig seufzte sie auf. "Mir wäre es lieber gewesen, Sie nie wieder in meinem Leben sehen zu müssen." Stur siezte Ramira ihn auch weiterhin. "Meine Großmutter hat euren Weggang nicht sehr gut verkraftet." Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern: "Womit auch immer Ihre Frau und Sie das verdienten: Sie liebt euch noch immer."
Betroffen sah Dirk Mainau weg. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie die alte Wahrsagerin um die Ecke verschwand. "Gehen Sie schon hinein", hörte er die Stimme von deren Enkelin und spürte erneut ihre Hand auf seiner Schulter. "Das sind Sie ihr schuldig."
Diesmal gehorchte er und betrat den kleinen, höhlenartigen Raum. Von innen war die Außenplane mit Seide gefüttert. Die weichen Falten des Stoffs changierten abwechselnd in den Farben des Regenbogens, die Decke simulierte einen Nachthimmel mit Sternen und bestand aus tiefblauem Samt. Brennende Teelichter waren ringsum auf im Boden verankerten Kommoden verteilt und durchbrachen mit sanftem Licht die Dämmerung im Inneren des Wagens.
Neugierig ließ der Immobilienmakler seinen Blick schweifen und lehnte sich am Türpfosten an. Der Rahmen schwankte etwas, die Holzdielen zitterten leicht. "Es hat sich nicht viel verändert", sagte er zu Ramira, löste sich aus seiner Position und trat an ein Rundum-Regal.
Dirk strich mit einem Finger über das Holz. Die vorwurfsvolle Stille, die von ihr ausging, zehrte an seinen Nerven. Gedankenverloren rieb er Zeigefinger und Daumen gegeneinander. "Es ist alles ein bisschen schäbiger als früher." Provokativ baute er sich vor ihr auf. "Habt Ihr das Putzen verlernt?" Er grinste hämisch.
Die junge Zigeunerin setzte sich auf eine Pritsche, schlug die Beine übereinander und musterte ihn. "Es ist lange her", antwortete sie. "Alles hat sich verändert." Wütend schlug sie ihr Tamburin und pfefferte es dann mit voller Wucht quer durch den Wagen. Die Glöckchen klingelten Sturm.
Mit langen Schritten durchmaß Dirk Mainau den Wagen der Wahrsagerin und lehnte sich gegen einen großen Tisch in der Mitte. "Warum bin ich hier?", fragte er. "Ich bin euch nichts schuldig geblieben." Er kehrte Ramira brüsk den Rücken zu. Eine Antwort auf seine Frage bekam er jedoch nicht. Am Liebsten wäre er gegangen, doch sein Schuldgefühl hielt ihn davon ab.
Unmerklich fast zuckte er mit den Schultern. Sein Blick hing nachdenklich an dem Tamburin, das auf der schwarzen Ebenholzplatte gelandet war. Er griff danach und spielte an den kleinen Glöckchen. Zwei davon waren verbeult von dem Aufprall. "So viel Zorn, aber so warst du schon als Kind."
In dem Moment betrat jemand den Raum. "Nounoka!" Ramira sprang hastig auf und ging ihrer Großmutter entgegen. Sie hängte sich bei ihr ein, führte sie an ihren Platz und stellte sich hinter sie.
Dankbar tätschelte Nounoka ihrer Enkelin die Hand. "Und nun geh, mein Kind." Von ihrer Verwirrtheit war nichts mehr zu spüren. Majestätisch richtete sich die Wahrsagerin in ihrem Sessel auf. "Dirk Mainau! Nimm Platz!"
Er wagte es nicht, ihr zu widersprechen und setzte sich mit einem seltsamen Gefühl von Leere und Bitterkeit in seinem Herzen. Ramira verließ den Schauplatz und hinterließ bleiernes Schweigen.
Beschämt senkte Dirk seinen Blick. Die Kristallkugel in der Mitte des Tischs leuchtete in allen Farben, silberne Nebel wallten darin. Er wehrte sich gegen den Sog, der ihn ergriff und spürte doch, wie die zarten Schwaden seine Seele umhüllten. Nounokas schwarze Augen waren unverwandt auf ihn gerichtet. Ganz zart rührte sich die alte Liebe in ihm. Brüsk flüchtete er sich in Spott: "Netter Hokuspokus!"
Die alte Frau schien in die Höhe zu wachsen. "Du hast dich verändert. Sehr zu meinem Missfallen im Übrigen." Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. "Großmutter", stammelte er und wollte sich erheben, doch mit einer gebieterischen Geste wehrte sie ihn ab. "Bleib, wo du bist. Wage es nicht, aufzustehen." Für einen Moment starrte sie ihn hypnotisch an. Beeindruckt ließ Dirk Mainau sich fallen ...
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

Gelöschtes Mitglied 26332

Déjà-vu

Wieder stand eine Mauer des Schweigens im Raum, nur durchbrochen von dem Rascheln zartestem Stoffs. Sie trug ihr altes Kostüm. Ein spitzengeklöppeltes Kopftuch fiel wie ein goldener Schleier an den Seiten herab, kupferne Münzen klimperten auf ihrer Stirn.
Heimlich sah er auf und hätte ihr am Liebsten eine weiße Strähne von der Wange gestrichen, doch Dirk wagte nicht, seine Hand zu erheben. Ihm schien, als befände er sich bereits in der Ewigkeit.
Schließlich begann sie zu sprechen. "Du weißt, ich habe immer an deine Unschuld geglaubt."
Ihre faltigen Hände tasteten unentwegt über die schwarze Ebenholzplatte, als suche sie Antwort in den Runen, die in den Tisch eingeschnitzt waren.
Dirk nickte stumm. In der Tat wusste er, dass sie die Einzige war, die für ihn gesprochen hatte, als niemand mehr an ihn glaubte. Alle hatten bezahlt für sein Versagen, einige der Artisten sogar mit ihrem Leben.
Doch auch wenn Nounoka ihm und Manuela eines Tages verziehe: Er selbst könnte es nie! 'Meine Karriere ist auf Leichen gebaut', dachte er und krampfte seine Hände ineinander. Für einen Moment verzerrte sich sein gebräuntes Antlitz zu einer gequälten Fratze. Ein Hauch wehte durch das Innere des Planwagens und streifte sanft seine Wange. Irritiert sah er in Nounokas Gesicht, doch sie war in ihre Studien vertieft und schien weit von ihm fort.
Aus verborgenen Lautsprechern erschollen plötzlich wispernde Stimmen, die sich mit ihrer vermählten. "Was ist mit eurem Kind?", fragte sie leise, so leise, dass er sie kaum verstand. " Warum ist es nicht mehr bei dir?"
Überrascht fuhr er auf. "Woher weißt du das?" Er hätte nicht gedacht, dass es überhaupt schon jemand wusste, geschweige denn Nounoka und ihre Familie, die er aus seinem Leben verbannt hatte, um sie zu schützen.
Die Alte seufzte. "Schau hin und sieh selbst." Die große Kristallkugel in der Mitte des Tischs wechselte ihre Farben in Nacht. Blitze zuckten ekstatisch in ihr.
Als die Effekte sich allmählich beruhigten, verjüngte sich das gefurchte Antlitz der alten Wahrsagerin vor Dirks Innerem Auge. Ihr weißes, dünnes Haar wurde voller, und plötzlich ähnelte sie ihrer Enkelin sehr. Silberne Strähnen schimmerten in langem Schwarzhaar, und sie trug ein bordeauxrotes Seidenkostüm.
In sanften Wellen kehrte der erste Tag ihres Kennenlernens zu ihm zurück. Mit seinem alten VW Bus hatte alles begonnen. Manuela war sechzehn gewesen, er neunzehn und auf der Durchreise nach irgendwohin, wie stets. Ihn hielt es nie lange an einem Ort.
Die alte Zigeunerin beobachtete Dirks Mienenspiel. "Wagst du es, bis zum Ursprung zu gehen?", fragte sie. Er nickte und senkte den Kopf. "Schließ deine Augen", hörte er ihre murmelnde Stimme. Widerwillig gehorchte Dirk Mainau und ließ sich von Nounoka entführen. Plötzlich befand er sich in ihrer Kugel und in seiner verdrängten Vergangenheit!

♦ ♣ ♦

Dreizehn Jahre zuvor

Die Welt ist rund ...
Autogeräusche ...
Der Asphalt biegt sich auf unter den Füßen: Dirk hat Angst, dass er fällt. Im Hintergrund hört er das stotternde Tuckern seines Bullis, er steht auf der Straße.
Der Verkehr wogt um ihn herum, keiner ist bereit, ihm zu helfen. Verzweifelt wirft er einen Blick durch das hintere Fenster, sieht seine Matratze da liegen, seine paar Habseligkeiten, und er hofft, dass sein alter Bus es noch einmal schafft. Doch dann erstirbt der Motor, und er weiß: Er hat nun auch kein Obdach mehr.
Der Junge dreht sich im Kreis, sein Blick wirkt gehetzt. Überall Straßen, er fühlt sich wie ein gefangenes Insekt in einem Spinnennetz. Lautes Hupen betäubt seine Ohren, schräge Blicke aus Fenstern, Schnee fällt auf ihn ...
Seltsamerweise ist ihm nicht kalt. Er sieht Eis auf dem Gehweg, Menschen, die ihm entgegen schlittern, doch sind ihre Gesichter verzerrt. Ein diffuser Schleier liegt auf der Welt um ihn herum, etwas wie silberner Nebel.
Nein, es wird wieder Nacht. Nun erinnert er sich ganz genau: Es war bereits dunkel.
Spätdämmerung einen Tag vor Silvester vor dreizehn Jahren. Eine murmelnde Stimme begleitet ihn in seinem Kopf, weist ihm den Weg in eine Gasse hinein. Etwas zieht ihn an wie ein Magnet. Es ist fröhliches Stimmengewirr, genau wie heute, als Dirk Mainau erneut auf sie stieß. Ebenfalls wie damals spürt er den magischen Sog ihrer Kugel.
Dieses Drehen ...
Er wünscht sich, dass dieses Drehen aufhört ...
Er sieht schwankende Hauswände in engen Gassen, zarte Wiesenränder mit silbern glänzenden Hügelchen Matsch bedeckt ...
Ein trauriger Schneemann am Straßenrand, er hat einen Besen in seiner Hand. Eistränen laufen ihm übers Gesicht, ihm ist zu warm. Der Winter war milder als all die Jahre zuvor, doch Dirks Bus hat ihn nicht überlebt.
Der Besen des Schneemann scheint in eine Richtung zu weisen. Da der junge Dirk sowieso nicht weiß, wohin er gehen soll, folgt er dem Wink und läuft dem Schicksal direkt in die Arme. Seine Welt wandelt sich von Silber in Gold.

♦ ♣ ♦

"Erinnerst du dich?", insistierte die alte Wahrsagerin. "Deine Bella Akazia lief dir direkt in die Arme."
Dirk wehrte ab. "Ich möchte nicht mehr daran denken. Sie gehört nicht mehr zu meinem Leben."
Die Zigeunerin seufzte. "Wie ich sehe, hast du noch nicht begriffen. Wenn du deinen Ursprung verleugnest, wirst du auch nie bereit für die Zukunft sein."
"Ich hab keine Zukunft", murmelte er dumpf in sich hinein. "Ich lebe für meine Tochter im Heute und Jetzt."
'Heute und jetzt' ...
'Heute und jetzt' ...
"Heute und jetzt", hallte es laut in ihm nach. Für einen kurzen Moment war er wieder bei sich, doch mit einem eleganten Fingerzeig schickte ihn Nounoka zurück. "Schlaf weiter, mein Prinz!"
Er spürte einen warmen Körper in seinen Armen, lange Haare umhüllen wie Weißgoldlametta ein zartes Mädchengesicht. Ihre Wangen sind fröhlich gerötet.
"Irgendwie siehst du verloren aus", hört er eine Stimme, so hell wie ein Silberglöckchen.
'Welch lieblicher Engel', denkt er und wünscht sich, sie möge niemals entweichen. Nun ist Dirk wieder der Junge, arm und obdachlos auf seinem Schicksalsweg. Die Atmosphäre der kleinen Stadt hält ihn umfangen und scheint ihn verzaubern zu wollen.
Es ist einen Tag vor Silvester, und noch immer sind die Häuser geschmückt. Tannengirlanden und Lichter, Kerzen in Fenstern, in naher Ferne eine menschliche Krippe ...
Manuela führt ihn dorthin. "Was ist passiert?", fragt sie. "Erzähl es mir, und vielleicht kann meine Familie dir helfen." Fest hält sie ihn an der Hand.
Dirk folgt ihr gebannt wie in einem Traum. Er vernimmt die Stimme des Jungen, verunsichert, schüchtern und stammelnd: "Mein Wagen ... Ist stehengeblieben."
Tränen schießen ihm in die Augen.
Verdattert bleibt sie stehen und dreht sich zu ihm um. Erstaunt schaut sie ihn an. "Und deshalb weinst du?", fragt sie. Ein Mann läuft in die beiden hinein, entschuldigt sich und hastet dann weiter.
Der Junge schluchzt auf: "Nein, aber mein Haus ist kaputt. Ich weiß nicht, wo ich hin soll."
Der Weißgoldengel legt eine Hand auf seine Wange. "Dein Wagen bleibt stehen, dein Haus ist kaputt", zählt sie mit liebevollem Spott in der Stimme auf. "Das ist in der Tat ein Grund für deine Tränen." Leicht zieht sie an seiner Hand und führt ihn weiter durch die enge Gasse. Zielstrebig hält sie auf eine golden leuchtende Laterne an deren Ende zu. Vor ihren Augen öffnet sich ein weiter Platz, und Dirk sieht die menschliche Krippe noch einmal.
"Aber ... aber du verstehst nicht", braust er auf und wird für einen kurzen Moment zu dem späteren Mann. "Mein Auto, das ist mein Haus."
Wütend wischt er sich übers Gesicht. Seine Hand hinterlässt einen schwarzen Streifen auf seiner Wange.
 

Gelöschtes Mitglied 26332

♦ ♣ ♦

Nounokas Stimme verschwand aus seinem Kopf und drang laut an seine Ohren. "Dein alter VW Bus", erklärte sie ihm, als ob er es nicht wüsste. "Das einzige Vermächtnis von deinem Vater, den du eigentlich hasstest. Doch du nahmst ihn an." Als sie sah, wie Dirk zusammenzuckte, legte sie beschwichtigend eine Hand auf die seine. Leicht zitternd lag sie auf dem Tisch. "Das sollte kein Vorwurf sein."
"Was blieb mir auch anderes übrig", antwortete er. Sein Gesicht versteinerte. "Hast du noch mehr Lebensweisheit für mich? Wenn nein, dann schenk mir meine Erinnerung."
"Bist du bereit?"
Er nickte stumm. Ein kleiner Tornado wirbelte um ihn herum und nahm ihn mit sich in seine Vergangenheit. Der alte Planwagen der Gaukler rückte erneut in sein Blickfeld, doch sah er wesentlich neuer aus.
Die Außenplane war noch mit Schnee bedeckt, an manchen Stellen schimmerte ein anderes Weiß durch die Lücken.
Manuela führt ihn über den Marktplatz direkt zu den Gauklern. Er hört wieder die Flöte, das Tamburin, geschlagen von seiner Nounoka.
Seine Hand greift ehrfürchtig in die Mähne des Ackergauls, kohlrabenschwarz und voll Kraft. Er ist vor den Planwagen gespannt. Auf dessen Tür prangt ein großes Plakat: "Wir wollen nicht viel, nur Futter für unsere Tiere."
Daneben steht ein großer Trog. Er ist gut gefüllt mit Karotten, Weißkraut und Münzen in allen Größen. Ein kleines Mädchen sitzt auf dem Rand und sieht den jungen Dirk mit großen Augen an. Sie fragt irgend etwas in einer Sprache, die er nicht versteht.
Der Engel antwortet ihr ...
Ein Kinderlachen ...
Eine brummende Männerstimme spricht ihn an: "Du siehst hungrig aus." Er reicht ihm einen großen Becher mit Suppe. Gerührt kämpft Dirk gegen die Tränen an.
Zwei gütige braune Augen in einem dunklen Männergesicht sind auf ihn gerichtet und beobachten zufrieden, wie er seinen Hunger stillt. Eine Frauenhand streicht ihm über den Kopf. "Es wird alles gut."
Plötzlich verschwamm das Männergesicht vor seinen Augen. Mit grausamer Brutalität holte ihn die Gegenwart ein. Entsetzt schlug Dirk Mainau die Hände vor sein Gesicht. "Tibor! Ramiras Vater."
"Ja!", antwortete die alte Zigeunerin. "Er hat mit Calimero deinen Bulli von der Straße geholt. Eine der Leichen in deinem Keller."
"Aber ... ich wollte das nicht ..."
"Ah!", machte sie nur und schickte ihn wieder zurück. Eindringlich redete seine damalige junge Retterin auf die umstehenden Männer ein und wies Richtung Straße. Fragende Stimmen, dann setzt sie sich keck auf den Rücken von Calimero. Ein weißgoldener Engel auf schwarzem Pferd ...
Starke Hände lösen das italienische Kaltblut aus seinem Geschirr. Kirchenglocken läuten im Hintergrund zur sechsten Stunde am Abend, als sich ein kleiner Zug Männer mit Pferd in Bewegung setzt.
Die Hufe knirschen vorsichtig über das Eis. Ein kleines Mädchen mit schwarzem Wuschelkopf schlittert lachend neben dem jungen Dirk Mainau her und umfasst seine Hand.

Fortsetzung folgt bei Bedarf

Die Währung für die Weiterführung der Geschichte ist euer Go. ;)
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Oben