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Tote Schwaben können's besser (eine Geschichte)

  • Themenstarter Gelöschtes Mitglied 26332
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Gelöschtes Mitglied 26332

Neues Kapitel: Waldbrand

Es war nach Mitternacht, als Elsa Huber erwachte. Einen Moment lang starrte die alte Bäuerin verwirrt gegen die Decke und fragte sich, was sie geweckt hatte. Normalerweise hatte sie einen gesunden Schlaf, doch heute war etwas anders. Sie hörte unruhiges Wiehern von Pferden, und ihre Hühner gackerten nervös in ihren Gehegen.
Ihre sehnige, abgearbeitete Hand tastete sich zu ihrer altmodischen Nachttischlampe hinüber. Als das Licht brannte, schwang Elsa ihre dünnen Beine aus dem riesigen Doppelbett. Schon ihre Großeltern hatten darin geschlafen, und ihr Vater hatte seinen letzten Atemzug in den alten Matratzen gemacht. In einem kurzen Gebet bat sie ihn um seinen Segen, wie jeden Tag, wenn sie sich aus den klumpigen Daunen erhob. Dann trat sie ans Fenster.
Die Nacht war ungewöhnlich hell, wie sie schon durch die Schlitze ihres Fensterladens erkannte, bevor sie das gekippte Fenster öffnete und beides weit aufstieß. Beißender Rauchgeruch trat in ihre Nase, und ihr erster Blick ging hinüber zum Nachbarhof. Dort war jedoch alles wie sonst.
Ängstlich glitt die Hand der alten Frau zu ihrem faltigen Hals und umklammerte das Kreuz, das an einer Kette dort hing. Sie hatte die Dunkelheit immer gefürchtet, wusste sie doch, was sie verbarg.
Mehr noch erschreckte sie indessen diese unnatürliche rötliche Helle, die in unregelmäßigen Abständen von Blitzen durchbrochen wurde. Noch immer hielten die dicken Regenwolken am Nachtfirmament ihre Pforten geschlossen.
Es waren heiße Tage gewesen. Selbst kümmerte sich Elsa schon lange nicht mehr um die Felder, sie waren alle verpachtet. Einst war das Huber-Gehöft eines von den größten Neuschönaus gewesen, und gemeinsam mit ihrem Mann hatte Elsa ein gutes Einkommen gehabt. Nun war sie arm, ihr Mann war verstorben. Alles, was sie noch hatte, waren zehn Hühner, drei Katzen in einer Scheune und einen rheumatischen Dackel, von dem sie hoffte, dass er vor ihr ging. Ihre eigenen Tage waren gezählt, sie war mittlerweile bereits über achtzig.
Fido wackelte winselnd auf sie zu und schnüffelte an ihrem Bein. Sein einstmals glänzendes braunes Fell war mittlerweile stumpf, und sein Leib war in die Breite gewachsen.
"Du spürst es auch, mein Guter, nicht wahr?" Elsa bückte sich schwerfällig und tätschelte den Kopf des alten Langhaardackels. Sie warf noch einen letzten Blick zum Fenster hinaus, im Versuch, das Rätsel, das sie beschäftigte, zu lösen. Irgendwo musste es brennen, sie roch und fühlte es mit dem Instinkt und der Weisheit des Alters.
"Komm, Fido, wir gehen nochmal raus." Die alte Frau trippelte an ihren Schrank, griff nach ihrem fadenscheinigen Morgenrock und zog ihn umständlich über. Im Flur leinte sie Fido an und verließ mit ihm zusammen das rot geziegelte Reetdachhaus.
Zögernd öffnete sie das Gatter und trat hinaus auf die Straße. Elsa umwickelte ihr Handgelenk mit der Leine und klammerte sich daran fest. Sie suchte Halt in dieser Handlung, und zugleich war es der Wunsch, ihren Hund zu beschützen.
Fido bellte und strebte zurück in Richtung Haus. Abgelenkt starrte sie auf ihn hinunter und war verwirrt. Er war normalerweise nicht ängstlich, aber jetzt hatte er die Rute zwischen die Beine geklemmt und blickte unverwandt in Richtung Wald. Der Hund stieß die Nase gen Himmel und heulte.
Dünne, kaum wahrnehmbare Rauchschwaden waberten über dem Dorf und verschwanden zwischen den Gewitterwolken am Horizont. Zwischen sporadisch wiederkehrendem Donnergrollen und den unruhigen Stimmen der Tierwelt vernahm Elsa ein ganz leises Knistern.
Als sie Fidos Instinkt folgte und zum Wald hinüber sah, vermeinte sie, ein rötliches Glühen in den oberen Regionen der Baumfront zu erkennen, doch sie war sich nicht sicher. Erschrocken führte sie eine Hand zum Mund und blieb sekundenlang stocksteif stehen. Ein heißer Wind spielte mit ihren schlohweißen Haaren.
Ihr Hund riss sie aus ihrer Erstarrung. Sein Winseln wurde lauter, und vehement stemmte er sich gegen die Leine. Sie fasste sich und führte ihn zurück ins Haus.
"Die Feuerwehr ...", stammelte sie vor sich hin und hatte vor Aufregung die Nummer des Notrufs vergessen. Mit zitternden Händen riss sie die Schublade an ihrem Telefonschränkchen auf und suchte nach ihrem Telefonbuch.
Elsa Huber war die Erste in jener Nacht, die den Waldbrand bemerkte. Kurz nach ihrem Anruf ging es schnell, bis der Einsatzwagen der FFW Neuschönau an ihrem Haus vorbei brauste, die beiden Tanklöschzüge des Ortes im Schlepptau.
Allmählich erwachte die schlafende Einsiedlerstraße zu verhaltenem Leben. Die Bäuerin verließ noch einmal das Haus und stellte sich an den Straßenrand. Diesmal ließ sie Fido daheim.
Mit dem Rücken zum Hof schaute sie die schlecht beteerte Straße entlang und beobachtete, wie die Einsatzwägen am Anfang der sanft geschwungenen Serpentinen verschwanden. Die drei Blaulichter durchleuchteten gespenstisch die Nacht. In ihrer kompromisslosen Lautlosigkeit vermittelten sie so etwas wie Endgültigkeit.
Plötzlich fühlte Elsa sich einsam. Gewitterböen zerrten an ihrem leichten Nachtgewand und trieben ihren ausgemergelten Körper zur Seite. Gedankenverloren grub sie ihre nackten Zehen in den warmen Sand und verlor sich in der Vergangenheit.

Feuer spielte darin eine tragende Rolle, und seitdem sah sie das Unglück voraus, bevor es geschah.

Sie starrte zu dem kaum sichtbaren Glühen in den Höhen des abgelegenen Waldabschnitts und dachte an ihren Sohn. Er war bei einem Waldbrand ums Leben gekommen, als er auf Kreta in Urlaub war. Fünfzig Jahre alt wäre er dieses Jahr an Ostern geworden, doch seinen runden Geburtstag hatte er nicht mehr erlebt.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Elsa wandte sich ab und erwiderte zerstreut den Gruß der jungen Haustochter vom Nachbarhof. Martina Geldorf stand neben ihr und hatte schützend den Arm um ihre Schultern gelegt.

"Frau Huber, wollen Sie nicht lieber hinein gehen?", fragte sie und musterte mitleidig den Aufzug der alten Frau.

Elsa schüttelte heftig den Kopf. "Gleich kommt mein Enkel." Ihre Stimme klang voller Vertrauen in den einzigen Verwandten, den sie noch hatte. Tobias studierte in München, doch an den Wochenenden war er bei ihr.
Ein einzelnes Heulen kündigte die Ankunft weiterer Mannschaften an, und kurz darauf fuhr ein Rettungswagen vorbei.

"Was ist denn passiert, Frau Huber, wissen Sie was?" Im schwachen Laternenlicht funkelten Martina Geldorfs Augen Elsa neugierig an.

"Im Wald brennt's", antwortete sie. "Ich habe das Feuer gesehen." Die Bäuerin wies mit einem mageren Finger in die Höhe hinauf. "Sehen Sie? Da oben ist alles rot." Donnergrollen mischte sich in ihre Worte, ein Blitz, der dessen Vorhut gewesen sein sollte, wurde von Rauchschwaden in den Bergen verschluckt.
Während sich der warnende Gesang der Sirene in der Nacht verlor, vernahm Elsa eine Abfolge von Motorengeräuschen, die sie schon kannte.

In der flammenden Sommernacht klangen sie der alten Frau wie eine Drohung.

Fortsetzung folgt
 

Gelöschtes Mitglied 26332

Im Wald

Der Einsatzleiter der FFW Neuschönau fluchte, noch während er die lange Straße nach oben fuhr. Mit einem Blick erkannte er, dass der Brandherd nicht mit den Fahrzeugen erreichbar sein würde. Er gab die Informationen per Funk an die Zentrale weiter und bog in den nächsten Waldweg ein. Dort wartete er auf seine Kollegen.
Zur gleichen Zeit startete Frank Grünewald sein Motorrad und fuhr vom Platz. Skrupel wegen den beiden Toten, die er hinterließ, hatte er keine. Phillip Baumgartner und Egon Triebentorf hatten es nicht anders verdient. Immerhin hatte er den Anschlag der beiden Männer nur mit viel Glück überlebt.
Seine tödlichen Helfer - unbekannterweise - waren nun hinter den letzten dreien der Bande her, wobei Frank nicht wusste, weshalb. Mutmaßungen in irgendeine Richtung verkniff er sich. Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Erinnerungen an seine Zeit als Berufssoldat wurden in ihm wach. Zimperlich zu sein, hatte er spätestens seit seinem Einsatz in Sarajevo verlernt.

Soeben hatte er Fahrt aufgenommen und wollte beschleunigen, als er die beiden Löschfahrzeuge entdeckte. Er war darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Schnell riss er seinen Lenker herum und nutzte eine kleine Böschung, um abzukürzen.
Kurz darauf befand er sich auf der Verbindungsstraße. Der Qualm vom Waldrand war mittlerweile stärker geworden und kam nach und nach weiter nach unten. Beißend drückte die Hitze auf seine Lungen und brannte auf seinem Rücken. Frank Grünewald ließ fünf weitere Feuerwehrwägen passieren, dann gab er Gas.
"Nach mir die Sintflut", murmelte er hämisch vor sich hin.
Wie auf Kommando trommelten die ersten Regentropfen auf seinen Helm. In ihm bohrte noch immer die Wut. Er hatte sich auf eine Jagdnacht gefreut und sich darauf vorbereitet gehabt, der Zentrale Informationen zu liefern. Was er in einem ruhigeren Moment in der Blockhütte gesehen hatte, daran wären die Obersten bestimmt interessiert gewesen, doch die Beweise waren verbrannt.
Im satten Klang seines Motorrads schweiften seine Gedanken zu den drei unbekannten Männern, die ihm geholfen hatten. Mit Genugtuung hatte er das Angebot angenommen, selbst Rache zu nehmen. Nun jedoch reute es ihn.
Nicht, weil er zwei Männer umgebracht hatte, sondern wegen den Luchsfellen, die unwiederbringlich verloren waren. Es war ein Vermögen gewesen, was Baumgartner und Triebentorf für sich abgezweigt hatten.
Gefrustet drehte er den Gashebel hoch und nahm die Schleife, die vor ihm lag. Ungebremst bog er in die Durchgangsstraße von Neuschönau ein. Es machte ihm wie immer Spaß, bis ans Limit zu gehen, und in jenen Momenten des Hochgefühls vergaß er alles um sich herum.
 

Gelöschtes Mitglied 26332

"Es fängt an, zu regnen", bemerkte Elsa Huber zur selben Zeit. "Was für ein Segen."
Glücklich hob sie die Hände gen Himmel und sandte einen nassen Gruß zu den Männern im Wald, die den Brand löschen sollten. Der Wind zerrte an ihrem Nachtgewand, und ihr Kopf fiel nach hinten. Ihre Tränen vermischten sich silbern mit den ersten Regentropfen der letzten Wochen.
Fasziniert beobachtete Martina Geldorf die alte Frau. 'Sie muss eine Schönheit gewesen sein.' Wehmut durchzog ihre Seele. Sie musterte die dünnen Haare der Bäuerin, die sie nun ungelöst umflatterten. Sie wirkte wie ein Geist in der Nacht.
Plötzlich verzog sich Elsas Gesicht zu einer Fratze. Im Laternenlicht funkelten ihre tränengefüllten Augen wie dunkle Seen. Wieder hörte sie dieses Geräusch, das ihr den Tod bringen würde. Tief in ihrem Herzen spürte sie es.
Ein grelles Licht kam auf sie zu. Noch bevor Martina Geldorf wusste, wie ihr geschah, sprang Elsa hinaus auf die Straße. Sie krümmte ihre Hände zu Klauen und schrie: "Feuerteufel, er kommt!"

Frank sah sie stehen. Verzweifelt zog er am Bremshebel und versuchte, die Geschwindigkeit wieder zu drosseln. Ein trockenes Klacken erklang, und ihm schwante Böses.
Der Himmel öffnete nun seine Schleusen. Der Motorradfahrer nahm das Gas herunter, doch die abschüssige Straße zog ihn weiterhin mit. In einer leichten Kurve begann seine Maschine, zu schlingern.
Eine Kakophonie aus Sirenen und schreienden Menschen drang dumpf durch seinen Helm.
Zwei weitere Einsatzwägen kamen ihm auf der Gegenfahrbahn entgegen. Ihre Warnlichter tauchten die fahle Gestalt der alten Frau in gespenstisches Blau. Elsa bäumte sich dem Motorrad entgegen. Ihre Stimme wurde zu einem Kreischen, als sie wiederholte: "Feuerteufel ... Mörder ... ich habe alles gesehen."
Sie fühlte sich wie eine titanenhafte Göttin der Rache, und ihr Herz raste vor Glück. Mit geweiteten Augen starrte sie in Franks Scheinwerferlicht.

Mittlerweile hatte sich die Straße mit weiteren Menschen bevölkert. Einige Nachbarn hatten sich am linken Straßenrand um Martina Geldorf versammelt, die meisten von ihnen wie Elsa im Nachtgewand. Entsetzt beobachteten sie das Geschehen, doch keiner von ihnen traute sich, die durchgeknallte Alte von der Straße zu holen.
Martina stockte der Atem, als die kreischende Frau nach vorn sprang, der außer Kontrolle geratenen Maschine direkt in den Weg. Dann begann sie zu schreien und strebte danach, zu ihr zu gelangen. Der eiserne Griff ihres Vaters verhinderte ihren Rettungsversuch in letzter Sekunde.

Frank Grünewalds Motorrad befand sich mittlerweile in Schieflage, und er konnte nichts mehr dagegen tun. Ekstatisch zog er wieder und wieder am Bremshebel, und im letzten Moment begriff er: Jemand hatte daran herummanipuliert.

In Todesangst begann er, zu keuchen, während er das Reiben des rauhen Straßenbelags an seinem linken Oberschenkel spürte. Heiß rann das Blut an ihm herunter.
Gedankenblitze schossen ihm durch den Kopf und trommelten schmerzhaft gegen seine Stirn. Bildfetzen der letzten Nacht, die er soeben hinter sich ließ. Für Reue war auch jetzt keine Zeit. Noch klammerte sich Frank Grünewald krampfhaft ans Leben.

Hysterisch begann er, zu lachen. Die Ironie wurde ihm schlagartig bewusst.

Mit sich durchdrehenden Reifen schlitterte er über die Straße, von links nach rechts und wieder zurück. Im Zeitraffer prasselten die Eindrücke - so stechend wie der strömende Regen - nun auf ihn ein: Die nasse Fahrbahn glänzte schwarz in der Nacht. Das Licht der Laternen spiegelte sich in den sich bildenden Pfützen wie in einem See. Vor ihm die Alte, rechts eine Menschenmenge am Straßenrand.

Das Feuer der Hölle in seinem Bein ...

Heulende Sirenen in seinen Ohren, das Dröhnen seiner Maschine bohrte sich in sein Gehirn. Das Quietschen der Reifen verursachte eine Gänsehaut auf seinem Rücken, die er als Kontrast zu der Hitze an seinem Hinterkopf als wohltuend empfand.
Seine Welt schwankte vor seinen Augen wie ein Schiff im Orkan. Er umschiffte die zarte Gestalt der alten Frau wie eine Klippe, umrundete einen Einsatzwagen der Feuerwehr und glitt durch die sich bildende Lücke zum Nächsten.

Das Motorrad wandte sich unkontrolliert wieder nach links ...

Schreie ...

Ein Krachen ...

Der Aufprall ...

Sirenen verstummen ...

Gespenstische Ruhe erfasste ihn. Namenloses Entsetzen bildete sich in seiner Kehle, und er öffnete seinen Mund.

Panik ... er konnte nichts hören. Er hörte seine eigenen Schreie nicht mehr ...

Glühende Lava an seinem Hals: 'Blut ... ist das Blut?'

Frank Grünewald vermeinte, ein Röcheln zu hören. Er spürte, wie das Leben aus ihm heraus rann wie Wasser aus einem durchlöcherten Eimer. Noch einmal wehrte er sich gegen die Schwärze, die ihn ergriff, und versuchte, sich zu erheben. Er spürte das Gewicht seiner Maschine mehr als den Schmerz.
Kraftlos sank sein Kopf zurück auf den Asphalt. Ein leiser Wind umsäuselte ihn, und verwundert stellte er fest, dass er alles Laute in seiner Seele verbannte. Er drehte seinen Kopf und sah nach oben.
Verschwommen erblickte er das leuchtende Antlitz der alten Frau. Ihre schmalen Lippen bewegten sich. "Bitte verzeih mir", glaubte er, ihre gewisperten Worte zu hören. "Das habe ich nicht gewollt."
Frank sandte seine eigene Bitte um Vergebung in ihre Richtung und ergab sich der ewig währenden Nacht.
 

Gelöschtes Mitglied 26332

Martina Geldorf klammerte sich an ihren Vater. "Hast du das gesehen?" Sie drehte sich im Kreis und starrte mit weit aufgerissenen Augen ihre Nachbarn an. "Habt Ihr das gesehen?" Ihre Worte klangen atemlos.

Josef Geldorf nickte stumm.

Eine Sturzflut trommelte laut prasselnd auf die wenigen Menschen am Straßenrand nieder und rann über ihre Gesichter. Geschocktes Keuchen klang durch das Heulen des Sturms. Die Blicke waren gen Westen gewandt, wo der Unfall passierte.
Wie in Zeitlupe drehten sich die Räder des Motorrads vor Martinas Augen. Frank Grünewald war seitlich gegen die linke Front des zweiten Feuerwehrwagens geknallt.
Die beiden Einsatzwägen waren zum Stillstand gekommen. Alle Türen waren geöffnet. Geschockt stand ein Teil der Rettungsmannschaft von Altschönau um die demolierte Maschine herum, einer der Männer telefonierte.
Der Motor des Unglücksfahrzeuges röhrte im Leerlauf. Aus einem Funkgerät quäkte die Stimme des Einsatzleiters durch den Äther, wo sie denn blieben.
Noch immer kreiste blaues Licht durch die Nacht und spiegelte sich in einer Blutlache neben dem Unterkörper des Toten. Der Fahrer des zweiten Wagens riss sich von diesem Anblick los, kletterte ins Innere seines Fahrzeugs und kam mit einer Decke zurück. Fast liebevoll drapierte er sie über den geschundenen Leib, griff an den Lenker des Motorrads und drehte den Motor aus.

"Was sollen wir jetzt machen?", fragte eine fassungslose Stimme aus der Mannschaft des ersten Wagens. In der Ferne erklangen Sirenen.

"Polizei und Krankenwagen sind schon unterwegs. Ihr solltet fahren, im Wald oben brauchen sie euch."

Drei Feuerwehrmänner begannen mit der Absicherung des Unfallortes und stellten sich mit Laternen an den Straßenrand, um auf die Kollegen zu warten. Der Fahrer des ersten Wagens ging zu seinem Fahrzeug und wollte gerade einsteigen, als er Elsa entdeckte.

Einsam trieb die alte Frau in entgegengesetzter Richtung die Straße entlang und wandte sich zum Ortsausgang. Ein Raunen ging durch die Menge. "Elsa lebt ..." Es führte sich fort von Mund zu Mund.

Erleichtert schluchzte Martina Geldorf auf und warf sich an die Schulter ihres Vaters. "Sie lebt ...", stammelte sie.

Ein junger Mann löste sich aus den hinteren Reihen und trat auf die Straße. "Elsa!", rief er.

Gebannt starrten etliche Augenpaare ihr hinterher. Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper der alten Frau, und sie blieb stehen. Elsa hob ihren Kopf in Richtung Wald, und ein markerschütternder Schrei hallte durch die Nacht. "Mörder ...", schrie sie. "Feuerteufel, verdammte!"

Martina Geldorf und Tobias Huber rannten fast gleichzeitig los. Entsetzt sahen die beiden, wie sie zusammenbrach. "Könnte mir mal jemand helfen?", brüllte der junge Mann nach hinten. "Sie stirbt ..."
Als Tobias sich über seine Großmutter beugte, öffnete sie ihre Augen. Sanft streichelte sie ihm über die Wange. "Du bist gekommen ...", flüsterte sie. "Ich habe gewusst, dass du mich nicht vergisst."
In Bruchteilen von Sekunden löste sich die neuerliche Schockstarre bei den Einsatzkräften der Feuerwehr. Drei Männer eilten Elsa zu Hilfe. Erste Voruntersuchungen ergaben keine Verletzungen, und bald stand sie ganz von selbst wieder auf ihren Beinen.

In den nächsten fünf Minuten war die abgelegene Straße von Neuschönau von hektischem Leben erfüllt. Notarzt und Rettungswagen trafen ein, kurz darauf die Polizei. Für Frank Grünewald kam jede Hilfe zu spät.
Der Fahrer des zweiten Wagens wurde vorsorglich unter die Fittiche der Sanitäter genommen, wogegen er sich vehement wehrte. "Mir fehlt nichts", versicherte er immer wieder.
Der Crew der Feuerwehr brannte die Zeit unter den Nägeln. Aus einem geplanten Einsatz bei einem Waldbrand war ein Desaster geworden, und vor Ort waren die beiden Löschgruppen zu Aufräumarbeiten verdonnert.
Am Waldrand oben nahm jedoch alles seinen Gang. Erschrocken hatte der Leiter der FFW Neuschönau bei Eintreffen festgestellt, dass sich mehrere Menschen im Wald befinden mussten. Er hatte die Motorräder der Gang um Phillip Baumgartner herum zwischen den Bäumen gefunden.

Fortsetzung folgt
 

Gelöschtes Mitglied 26332

Am Ausgangspunkt des Geschehens ...

Ralf Mischkowski quittierte die Anwesenheit von Michael Drehbusch mit gemischten Gefühlen. Er fragte sich, ob ihm zu trauen war. Drastisch stand ihm der Schrecken des soeben Erlebten vor Augen, und die aktuelle Gegenwart schien das noch zu toppen.
Hustend und keuchend schlitterte er rechterhand der Hütte einen Abhang hinunter, in die Richtung, in die er von Winnie und Mick geschickt worden war.
Um sich selbst zu beruhigen, sagte er sich, dass Winfried Kahlmann den ihm unbekannten Neuankömmling zu kennen schien. Doch andererseits: Wem war in seiner Situation überhaupt noch zu trauen? Er war Augenzeuge von zwei Morden geworden, und wenn mit seinen Ohren alles stimmte, war das noch nicht alles gewesen.
Allmählich begann er zu begreifen. So, wie es aussah, waren Phillip Baumgartner und Egon Triebentorf auf einer Art Index gestanden, und nicht nur sie. Wenn seine Vermutung stimmte, dann war nicht zu erwarten, dass diese Nacht irgendjemand von ihnen überlebte. Vorausgesetzt, die Killer befanden sich nicht in den eigenen Reihen, was er nicht ausschließen wollte.
Ralf unterdrückte einen Schrei, als er bei seiner Rutschpartie an einem Baum hängen blieb und schätzte sich glücklich, dass er sein Nachtsichtgerät trug. Somit war er erst einmal im Vorteil, doch so ganz ohne Waffe fühlte er sich so hilflos wie ein Fisch ohne Wasser.

Als es donnerte, drückte er sich vorsichtig in ein Gebüsch und lauschte auf jedes weitere Geräusch. Das Knistern der Flammen war näher gekommen, wie er glaubte.
Um sich zu vergewissern, sah er die Felswand hinauf, und da sah er ihn stehen. Der Größe nach musste es einer der Männer sein, die Phillip Baumgartner in die Hütte geschafft hatten, wo er den Flammen zum Opfer fiel.
'Was für ein Wahnsinn', erinnerte sich Mischko an die Situation. Es hatte sich herausgestellt, dass Grünewald mit den Killern gemeinsame Sache gemacht hatte. Wenn er es nicht selbst gesehen hätte ...
Im Moment fühlte er sich noch sicher. Durch die Zweige seines Verstecks beobachtete er den Mann über ihm. Offenbar hatte er sich einen Ausguck gesucht, um nach ihm und den Anderen zu suchen. Das Feuer - so tödlich wie es für Phillip gewesen war: Ihm selbst war es zugute gekommen.
Vorsichtig rollte Ralf sich zur Seite, nachdem der Unbekannte von seinem Aussichtspunkt zurücktrat und seinem Blickfeld entschwand. Er hatte nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen, um eine bessere Zielscheibe für die Männer zu bieten. Bei der Flucht vor dem Feuer waren ihm schon die Kugeln um die Ohren geflogen, und er wollte sein Glück lieber nicht allzusehr strapazieren.
Mit kurzen Pausen rollte er sich weiter den Hügel hinab und versuchte, seine Deckung hinter Büschen und Bäumen zu wahren. Weit über seinem Kopf toste das Feuer und verschluckte die Geräusche, die er dabei machte.
Plötzlich stockte Ralf Mischkowsi der Atem: Ein lautes Donnern kam von oben herab und rollte direkt auf ihn zu. Der Boden bebte.

Er ließ sich nicht die Zeit, die Ursache zu finden. Hastig rappelte Ralf sich auf, sprang behende zur Seite und hangelte sich auf den nächsten Baum. Mit gesträubten Nackenhaaren sah er hinab und hielt gebannt den Atem an: Unter ihm raste eine Horde Rehe vorbei.
In deren Nachhut rannte Winnie wie von der Tarantel gestochen die Böschung herab. Er schlug verzweifelte Haken wie ein Hase auf der Flucht vor dem Jäger.
Den Grund dafür erkannte Ralf gleich, als er das Surren einer Armbrust vernahm und ein tödlich aussehendes Geschoss durch die Luft fliegen sah. Er zischte leise durch seine Zähne. Winnie hatte sich unter dem Baum, auf dem er selbst saß, fallen lassen, nur wenige Meter von ihm entfernt. An dessen Stamm zitterte der abgeschossene Pfeil. "Das war ganz schön knapp, mein Lieber", murmelte Mischko im Selbstgespräch.

Von dem Schützen war ringsum nichts zu sehen, doch Ralf hatte die Vermutung, dass dieser sich noch auf der Höhe befand. Er setzte die hohle Hand an den Mund und gab wie abgemacht den Ruf der Eule von sich.
Winnie hörte den Ruf und kauerte sich etwas tiefer in sein Versteck. Antwort zu geben, wagte er nicht, zumal er nicht wusste, wie weit er von seinen Verfolgern entfernt war. Er hatte gedacht, froh sein zu können, hier unten zu sein, doch dann hatte er feststellen müssen, dass er sich erst recht auf einem Präsentierteller befand.
Allmählich zweifelte er daran, dass Jürgen Mantwied beim Tod von Felix Freitag seine Finger im Spiel gehabt hatte. Es waren noch zwei Andre gestorben, und so wie es aussah, war auch er demnächst dran. Er war sich nur noch nicht darüber im Klaren, warum. War es, weil er Augenzeuge zweier Morde geworden war? Weil Frank Grünewald durchgedreht hatte?
Der Mann, den er von den Video-Sessions mit dem Führungsstab von Agricom kannte, hatte Phillip Baumgartner und Egon Triebentorf umgebracht. Winnies erste Vermutung war, dass es ein Rachefeldzug gewesen sein könnte, weil die beiden Organisatoren von Gegenhund.org ihm ans Leder wollten. Den Gedanken verwarf er jedoch schnell, denn die drei anderen Männer passten bei dieser Überlegung nicht in sein Bild. Vielmehr kam es ihm so vor, als ob auch Grünewald eine willfährige Marionette war.
Dennoch war er noch nicht bereit, für Jürgen die Hand ins Feuer zu legen. Er wusste, wie besessen er und seine Frau waren, wenn es darum ging, Verbrechen am Tier zu ahnden. Mitunter konnten beide skrupellos sein.
Als ein zweiter Pfeil neben ihm einschlug, zuckte er erschrocken zusammen. 'Die meinen es ernst', mahnte er sich selbst voller Entsetzen. Winnie robbte drei Büsche weiter, krabbelte hinter einen uralten Baum und setzte sich in die Aushöhlung in seinem Stamm. Hier, hinter Wildem Efeu versteckt, fühlte er sich relativ sicher. Er brauchte Zeit zum Überlegen.
Plötzlich fühlte er seine Erschöpfung. Der Zeitpunkt, zu dem sich die Clique auf dem Parkplatz getroffen hatte, bereit zur Abfahrt hierher, schien eine halbe Ewigkeit von ihm entfernt. Er lehnte seinen Kopf an die Innenseite der urwüchsigen Aushöhlung und genoss für einen Moment den erdigen Geruch, der ihn umgab.
Er konnte froh sein, wenn er mit heiler Haut aus dieser vertrackten Sache herauskommen würde. Je länger er darüber nachdachte, umso hirnrissiger erschien ihm der Plan, den Wilderern die Tour zu vermasseln.
'Und nun bin ich zwischen die Fronten geraten', sinnierte Winfried Kahlmann bitter in sich hinein. 'Ich weiß nicht einmal mehr, wo ich eigentlich stehe.'
Vor seinen Augen gleißte es auf. Ein Taschenlampenstrahl leuchtete ihm direkt ins Gesicht. Er verfluchte sich selbst, zu unvorsichtig gewesen zu sein. "Komm raus, Bürschchen", knurrte sein Gegenüber. "Hier ist es viel netter."
Winnie sah sich schon mit einem Loch im Kopf, doch dann erkannte er die etwas knarrende Stimme des Grantlers. "Bist du wahnsinnig?", flüsterte er. "Die schießen von oben auf uns."
Dennoch konnte er sich ein Grinsen nicht ganz verkneifen. Er verließ sein Versteck, blieb jedoch unten und zog an Bernds Hand. "Wo hast du eigentlich deine Brille?", fragte er leise und musterte dessen nacktes Gesicht.
"Verloren", nuschelte der Gefragte und warf sich ins Gebüsch neben ihn, als ein Schuss durch den Wald hallte. Eine Kugel schlug direkt an der Stelle ein, wo er soeben noch gestanden hatte.
"Na toll", stöhnte Winnie verhalten. "Offenbar hast du bereits beschlossen, freiwillig aus dem Leben zu scheiden."

Fortsetzung folgt
 

Gelöschtes Mitglied 26332

Cato

"Wie kann es sein", fragte sich Mick, "dass menschliche Individuen sich organisieren, um andere Menschen zu töten? Oder gar ganze Völker ausrotten? Tiergattungen vernichten, so dass bald nichts mehr übrig bleibt?"
Momentan hatte er mit der Apokalypse seiner Vorstellungskraft zu tun: Mit einer ganzen Horde von Killern. Zumindest kam es ihm rückblickend so vor, und hätte er sich nicht in ein Verlies geflüchtet, das nur er kannte - und Jürgen - dann flögen auch ihm die Kugeln um die Ohren.
Mick bog in eine Abzweigung der unterirdischen Höhle ein und setzte sich auf den feuchten Boden. Nicht weit von ihm lief ein Rinnsal entlang, und er wusste: Würde er diesem folgen, käme er nicht weit entfernt von seinem eigentlichen Ziel heraus.
Dummerweise hatte er seine beiden Schützlinge aus den Augen verloren. Er hoffte, dass Winnie und Bernd selbst erfahren genug waren, um sich aus der misslichen Situation zu befreien.
Dass noch einer von den Wilderern bei ihnen war, gefiel Michael Drehbusch allerdings nicht. Ralf Mischkowski war der unbekannte Faktor in seiner Rechnung. Er hatte ihn nur flüchtig kennengelernt, und gemeinsam mit Winnie hatte er ihm das Leben gerettet. Er wäre glattweg ins Feuer gerannt, hätten die beiden Freunde das nicht verhindert. Um langfristig Kindermädchen zu spielen, fehlte ihm jedoch einfach die Zeit - und die Geduld.
Mick robbte ein paar Meter nach vorn, tauchte beide Hände in das kristallklare Wasser des kleinen Bachs und trank gierig. Er hatte sich schon den ganzen Tag in dem weitläufigen Waldareal bei Neuschönau aufgehalten, um alles vorzubereiten. Es war immer noch gnadenlos warm, und die Hitze des Feuers, das in den oberen Regionen des Waldes tobte, tat ein Übriges.
Ein Turm von Fragen türmte sich vor ihm auf: Weshalb hatte einer, der doch eigentlich dazugehörte, die beiden Bandenchefs umgebracht? Weshalb waren Killer hinter den Wilderern her? Hingen die drei Morde im Wald da oben zusammen, oder war Felix Freitag ein Zufallsopfer gewesen? Oder hatte er sich sogar selbst erhängt?
Mick tauchte seinen Kopf ins Wasser und hoffte, ihn klar zu bekommen. Letzteres schloss er eigentlich aus. 'Und außerdem', dachte er, 'was geht es mich an? Wenn sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, umso besser für uns.'
In gebückter Haltung begab er sich durch den niedrigen Gang ins Hauptgewölbe der Höhle. Er griff in eine kleine Einbuchtung im Fels und holte dort seinen Rucksack hervor. Auf gut Glück nahm er Felix Freitags Pager heraus, schaltete ihn ein und versuchte, die Koordinaten von Bernd, Ralf und Winnie zu orten. Er hatte die Map des Waldgeländes inklusive eingezeichneter Pfade und die wichtigsten Anlaufstellen in Form von Linien und Quadraten vor Augen. "Entweder haben sie ihre Pager verloren", murmelte er vor sich hin, "oder sie sind ausgeschaltet."
 

Gelöschtes Mitglied 26332

Plötzlich kam ihm eine Idee. Er vermutete, dass die drei Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatten, um einer Entdeckung mithilfe der Pager vorzugreifen. Genauso gut konnte er versuchen, die fremden Männer auf seine Fährte zu locken. Wenn alles klappte, so wie er sich das dachte, dann wäre diese Höhle hier zwar nicht mehr zugänglich für ihn, doch die Killer würde eine Überraschung erwarten.
Mick griff noch einmal in die natürliche Vorratskammer hinein und holte eine kleine Kiste hervor. Er belud seinen Rucksack mit deren Inhalt. Anschließend schulterte er vier Gewehre, setzte eine Nachtsichtbrille auf und verließ die Höhle. 'Sie sind tatsächlich immer noch da', überlegte er, als er vereinzelte Schüsse vernahm.
Das Prasseln des Feuers war leiser geworden. Der Wind hatte gedreht und wehte nun aus nordöstlicher Richtung. Er trieb die Flammen von ihnen weg, doch Mick wusste, dass sich das Blatt jederzeit wenden konnte. Würde es die Schneise - ein treppenförmiger Felswanderweg - überspringen, dann käme es schnell in die Niederungen herab. Der einzige Weg, auf dem er Ralf, Winnie und Bernd herausbringen konnte, war der nach weiter unten, zu einer Lichtung. Dort hatte er seinen Jeep.
Die Zeit eilte. Der erfahrene Waldgänger orientierte sich nach dem Schall und machte sich auf die Suche nach ihnen. Abschätzend warf er einen Blick in die brennende Bergregion, wo die Felsen zu glühen begannen. Dort, wo er stand, verschluckte der nachtfinstere Wald seine Silhouette fast ganz, doch wusste er, dass dieses Gefühl der Sicherheit trügerisch war. Ihre Gegenspieler waren genauso ausgerüstet wie sie, wenn nicht sogar besser.
Sein Weg führte wieder etwas weiter nach oben, in die Richtung, von der aus er nach wie vor vereinzelte Schüsse vernahm. Mick verschwand zwischen den dicht beieinander stehenden Bäumen und folgte dem Klang. 'Es ist eine Schande, was hier geschieht', philosophierte er still. 'Der Mensch hat keinerlei Ehrfurcht mehr vor der unantastbaren Heiligkeit der Natur.'
Aus den Augenwinkeln machte er einen großen Schatten aus, der sich ein paar Meter neben ihm in entgegengesetzte Richtung bewegte. Die Bewegungen waren grazil, fließend, und als er genauer hinschaute, stockte Michael Drehbusch der Atem. "Ein Luchs auf der Flucht vor dem Feuer", flüsterte er vor sich hin und starrte ihm nach. Die eingeschlagene Richtung bestätigte ihn in seiner Vermutung, dass die unteren Regionen des Waldes noch sicher waren.
In der Ferne hörte er Sirenen und fühlte sich unwahrscheinlich erleichtert. Jemand hatte den Brand schon entdeckt. Er hatte sein Handy oben bei der Hütte verloren, und alles, was er noch als Verbindung zur Außenwelt hatte, war der Pager von Felix Freitag.
Anzufangen war mit dem auf Intranet-Basis programmierten Gerät nicht viel, doch für seine Zwecke war es durchaus von Nutzen. Vorausgesetzt, ihre Häscher hätten wie vermutet das Gegenstück.
Mit einem Blick zum wolkenbehangenen Himmel hinauf stellte er fest, dass es nicht mehr allzu lang dauern konnte, bis die Gewitterfront aus nördlicher Richtung örtlich eintreffen würde. Heißer Wind wehte ihn an, und Schweiß trat auf seine Stirn. Wie die Wilderer war auch er in Leder gekleidet, und es klebte auf seiner Haut.
Übelkeit überkam ihn aufgrund seines eigenen Schweißgeruchs. Am Liebsten hätte Mick sich die Kleidung vom Leib gerissen, um in den nächstbesten See zu springen.
Ein Flattern über ihm schreckte ihn auf. Ein Schwarm von Fledermäusen stob aus einer Baumhöhle heraus und flog hinab ins Tal, begleitet vom Donnern des nahen Gewitters. Es war nur ein kurzer Moment, in dem er abgelenkt war, doch plötzlich spürte er ein höllisches Ziehen. Entsetzt griff er nach dem Stilett in seiner linken Schulter. Überlaut klang das Rauschen der Wipfel in seinen Ohren. Der Wald begann, sich um ihn zu drehen. Mit einem verhaltenen Schmerzensschrei sackte Mick halb bewusstlos zu Boden. Schatten zuckten im Hintergrund.
 

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Seine moderne Nachtsichtbrille schien ihn bis hinab in die Hölle drücken zu wollen und war schwer wie Beton. Die Konturen verschwammen um ihn herum und changierten von gespenstischem Grün zu fluoriszierendem Blau.
Mit einem ungeheuren Kraftaufwand kämpfte er gegen seine drohende Ohnmacht an und versuchte, die Augen offenzuhalten. Tränen rannen ihm über sein verzerrtes Gesicht. Er spürte, wie das Blut siedend heiß seinen Körper verließ und sich unter dem dichten Material seiner leichten Lederjacke zu stauen begann.
Krampfhaft umklammerte er den schlanken Griff des spitzigen Dolchs und hätte ihn am Liebsten herausgezogen, um das Höllenfeuer in seiner Schulter zu dämmen. Sein Atem pfiff vor lauter Schmerzen.
Michael Drehbusch fühlte, wie die Nacht über ihn kam. Bevor er sich ihr ergab, erblickte er eine hochgewachsene Gestalt, die breitbeinig über ihm stand. Der Körper war über und über verhüllt, und hinter einer schwarzen Maske glitzerten eiskalte Augen finster auf ihn herab. Der Unbekannte griff nach dem Stilett und löste die verkrampften Finger seines Opfers. Fast liebevoll strich er über die Klinge seines Dolchs und wischte das Blut an Micks Hosen ab.
Während die Klinge vor seinem Gesicht aufblitzte, schloss der schwer verwundete Tierdetektiv verzweifelt die Augen und lauschte auf den eigenen Atem. Noch immer hatte er nicht erfasst, was mit ihm geschah, und er dachte, es wäre ein Traum.

***

Als Michael Drehbusch wieder erwachte, war Cato genauso lautlos verschwunden, wie er gekommen war. Stattdessen beugte sich ein Gesicht über ihn, das er gut kannte.
"Da hast du ja mal wieder Schwein gehabt", sagte sein Freund und grinste ihn gutmütig an. "Du wärest mir glatt da im Wald verblutet."

Mick sah sich um und erblickte sterilweiße Wände um sich herum. Er lag in einem Bett, das nicht das Seine war, und er fühlte sich nackt.
Über seinem Kopf blitzte ein metallener Ständer mit einem durchsichtigen Beutel und rotem Inhalt darin. Schläuche mündeten in seinen Körper, und eine Kanüle piekste an seiner Hand. Wehleidig verzog er das Gesicht. "Ich hasse Krankenhäuser", stellte Mick fest. "Ein See wäre mir jetzt wesentlich lieber."
Von sich selbst angeekelt sah er an seinem durchtrainierten Oberkörper herab. Ein leichtes Nachthemd klebte vor Schweiß auf seiner Haut. "Alternativ täte es auch eine Dusche. Was ist eigentlich passiert?", fragte er seinen Retter. "Das Letzte, an was ich mich erinnere, ist ein Fledermaus-Schwarm. Danach ...", er pausierte, "ist nur noch ein Schwarzes Loch."
Micks Gegenüber zuckte die Schultern und strich sich in einer Verlegenheitsgeste über den kahl rasierten Schädel. Er setzte sich auf den Bettrand und starrte nachdenklich auf seinen Kumpel herunter. Normalerweise wäre Mick tot. Dass es nicht so war, verstand er als deutliche Warnung.
Irritiert musterte Michael Drehbusch seinen Freund und erwartete eine Antwort auf seine Frage. "J ...", fing er an, doch da lag auch schon dessen Hand auf seinem Mund. "Schschsch ... keine Realnamen. Gewöhne dich dran."
Bedeutsam nickte er zur Tür, die sich öffnete. Eine Nachtschwester betrat den Raum und stemmte streng die Arme in ihre ausladende Taille. Ihr Blick fiel auf Patient und dessen Besuch.
"Sie müssen jetzt gehen", rügte sie. "Normalerweise ist das nicht üblich, und wir haben nur eine Ausnahme gemacht. Es war Ihr Glück, dass heute nicht so viel los war."
Mick war versucht, sich zu erheben und ihrer Aufforderung zu folgen. Die dünnen Schläuche an seinen Armen spannten sich, und die Kanüle der Bluttransfusion stach schmerzhaft in seinem Handrücken. Zugleich fühlte er, wie seine frisch operierte Schulter wieder zu brennen begann. "Sie meinte ich nicht", schimpfte die ältere Frau in grüner Krankenhaustracht barsch und bemühte sich, ihre Stimme zu senken. Mit Nachdruck fuhr sie fort und sah dabei den Anderen an: "Herr ..."
"Meinschel", unterbrach dieser schnell. "Gregor Meinschel." Geflissentlich ignorierte er Micks argwöhnischen Blick, stand auf und ging auf die Nachtschwester zu. Er neigte seine Lippen an ihr rechtes Ohr und flüsterte: "Nur noch einen Moment, wir haben noch was zu bereden." Warm drückte er ihren Arm, blickte ihr tief in die Augen und kehrte feixend zum Bett seines Freundes zurück.
Schwester Anette sah ihm nach wie vom Donner gerührt. "Sagen Sie mal ..." Sie besann sich eines Anderen, wirbelte auf den Hacken im Kreis herum und stürmte schnaubend zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um: "Zehn Minuten. Keine Sekunde mehr!"
 

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"Woll, Chefin!" Die beiden Männer grinsten sie unisono unverschämt an. Mit Schwung zog sie die Tür hinter sich zu und ließ sie allein.

Spöttisch sah Mick seinen Freund an: "Der Mann, der sich Gregor nannte ... Klingt wie ein tierisch schlechter Agenten-Film."

"Bleibt mir eine andere Wahl?", fragte der. "Es ist soviel passiert." Flüchtig fragte sich Micks Freund, was mit seinem unfreiwilligen Namensgeber wohl passiert war. Er bezweifelte stark, dass er noch am Leben war. Allerdings war er sich ziemlich sicher, dass er es noch erfahren würde und dann gut daran täte, weiteren Anweisungen Folge zu leisten, so sehr es ihm widerstrebte.
Mick nickte verständnisvoll. "Ja, ich weiß. Aber ich glaube, wir haben uns einen Schuh angezogen, der uns zu groß ist. Was ist denn nun im Wald alles geschehen, und was hast du noch weiter vor?"
Gregor zögerte und fragte sich, wieviel er seinem engsten Mitarbeiter noch zumuten sollte. Statt einer direkten Antwort ging er in die Defensive. "Das mit Freitag war nicht ich. Das glaubst du mir hoffentlich."

"Wenn du das sagst ..."

Michael Drehbusch glaubte ihm wirklich. Dennoch war er sich sicher, dass der Junge noch leben könnte, hätten sie sich nicht auf die Fersen der Wildererbande gesetzt. Das Ganze war komplett aus dem Ruder gelaufen. Aber weshalb war er im Krankenhaus? Er fragte ihn.
"Du bist in ein Messer gelaufen", bekam er zur Antwort. "Ich habe dich blutend gefunden, und wäre ich so wie vorgehabt schon verschwunden gewesen, dann wärest du tot. Kannst du dich wirklich an gar nichts erinnern?"
Michael Drehbusch schüttelte den Kopf. "Das ging so schnell. Soeben schaute ich noch zu, wie Fledermäuse ins Tal hinab flogen und dachte noch, dass der Waldbrand bald nach unten kommt. Und dass wir Gas geben sollten. Und im nächsten Moment lag ich auch schon am Boden." Eine große Gestalt schob sich flüchtig vor sein inneres Auge, doch er konnte die Erinnerung nicht richtig fassen.

"Hast du niemanden gesehen?"

Mick rieb sich die Stirn. "Ich dachte, ich hätte den Teufel gesehen. Aber das hielt ich für eine Halluzination."

"Es gibt nur menschliche Teufel. Aber lassen wir das. Wir sollten zu Potte kommen, sonst machen die einen nach dem Anderen platt. Ich kann jetzt nicht zu deutlich werden, weil wir nicht allein sind. Wir reden weiter, wenn du wieder in freier Wildbahn bist."
Der Tierdetektiv schaute sich um und merkte erst jetzt, dass er das Zimmer mit drei weiteren Patienten teilte. Sie schliefen den Schlaf des Gerechten, und er warf leise ein: "Wolltest du nicht ins Ausland verschwinden?"

Gregor nickte. "Eigentlich schon. Aber im Anbetracht der Umstände bleibe ich hier. Du bist gehandicapt, und da lasse ich dich nicht im Stich."

"Was ist mit Winnie und Bernd ... und dem Anderen?", fragte Mick. Dunkel erinnerte er sich daran, dass er im Begriff gewesen war, nach ihnen zu suchen.

"Sie leben."

"Und unser Equipment?"

"Es ist alles heil geblieben und wieder in unserem Lager." Micks Freund lächelte heimlich in sich hinein bei der Erinnerung an die Show, mit deren Hilfe Winnie & Co. den drei "Mitarbeitern" von Agricom entkommen waren. Er hätte sich gern noch eine Weile länger an den Reaktionen der abgesandten Killer ergötzt. Sein Ablenkungsmanöver war ein voller Erfolg gewesen.
Die Tür öffnete sich erneut, und Schwester Anette streckte den Kopf herein. "Feierabend, Ihr beiden. Es ist ziemlich spät, und die Leute wollen schlafen. Und Sie", die korpulente Frau trat herein und machte sich an Micks Bettzeug zu schaffen, "sollten das auch."

Seufzend erhob Gregor sich und war froh, vor weiteren Fragen flüchten zu können. Er würde Mick alles erzählen, sobald er wieder gesund war, und wenn mehr Zeit war.
"Nur eine Frage noch", bat Michael Drehbusch und sah seinen Freund dabei an. "Was ist mit dem Jeep?"

"Der Mann, der sich Gregor nannte" griff in die Hosentasche, zog einen gut bestückten Schlüsselbund hervor und hob ihn klingelnd in die Höhe. "Den habe ich. Du hast ja bestimmt nichts dagegen."
Sein eigenes Auto stand ihm seit einiger Zeit nicht mehr zur Verfügung und war in Händen der Polizei. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als es am Höllensteinsee stehen zu lassen und unterzutauchen.
Die Nachtschwester machte eine beidhändige Geste und scheuchte den lästigen Nachtbesucher wie eine Katze zur Tür. "Ksch, ab jetzt dafür. Und kommen Sie so schnell nicht wieder", zischte sie leise dazu. Gregor verließ den Raum. "Sie haben mehr Glück als Verstand", sagte sie daraufhin zu Mick. Ihre Stimme wurde ernst und weich. "Wenn Ihr Freund nicht gewesen wäre ..."

"Wie lange bin ich eigentlich hier?", fragte er sie. "Ich habe keinerlei Zeitgefühl mehr."

Schwester Anette legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Stirn. "Seit gestern nacht. Sie waren bis heute mittag auf der Intensiv-Station. Dass Sie noch leben, verdanken Sie nur Ihrer guten Konstitution."
"Ich weiß nicht einmal, was eigentlich passiert ist", klagte er und grub seinen Kopf ins Kissen.
"Sie haben eine Stichverletzung an der linken Schulter. Genau genommen ... hätte nicht viel gefehlt, und die Waffe hätte Ihr Herz getroffen. Die Polizei wird sich bestimmt auch noch um Sie kümmern, seien Sie darauf schon mal gefasst."
Nachdem die Krankenschwester den Raum verlassen hatte, lag Mick noch lange wach. Irgendetwas sagte ihm, dass sein Freund etwas verschwieg. So, als ob dieser ganz genau wüsste, wer sein Angreifer gewesen sei.
Noch mehr beschäftigte ihn die Sache mit Gregor. Was war mit ihm wirklich geschehen? Den angeblichen Glücksfall, dass ein Mitglied von Gegenhund.org das Land verlassen hatte, wollte er nicht so recht glauben. Das passte fast punktgenau in Jürgens Plan.
 

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Erst, als er Kopfweh bekam, dimmte er das sanfte Nachtlicht aufs Minimum und versuchte, zu schlafen. Jedes Mal, wenn er dachte, endlich ins Reich der Träume flüchten zu können, schreckte er wieder hoch und dachte, die dunkle Schreckensgestalt vor sich zu sehen. In seiner Fantasie wurde sie übergroß, mit Augen wie Feuer.

In den frühen Morgenstunden schließlich sackte Mick in einen bleiernen Schlaf und stand gefühlte fünf Minuten später senkrecht im Bett, als die Tagesschicht ihre Routine in den Krankenzimmern der Deggendorfer Klinik aufnahm. Stöhnend wälzte er sich in den Kissen und wehrte sich vehement dagegen, an sich rumfummeln zu lassen.

Später erfuhr er all das aus der Zeitung, was ihm sein Besuch verschwiegen hatte. So auch den Fund einer weiteren Leiche, und als er das Foto der nackten Frau betrachtete, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie war über und über mit Farbe beschmiert.

Ein ihm unbekannter Reporter berichtete detailliert von Leichenfunden im Wald, von traumatisierten Feuerwehrmännern, vom Heldentum jener Männer, die es trotz all den Schrecken, die sie beim Löschen erlebten, geschafft hatten, die Feuersbrunst rechtzeitig zu dämmen. Wieder und wieder betonte der Schreiber, welches Drama sich vermutlich abgespielt hatte. Der Baumwipfelpfad läge nicht unweit der Stelle des Brandes ...

"Und bla ...", murmelte Mick und las weiter. Die Identität der Ermordeten sei bis dato noch nicht bekannt, hieß es da, doch er wusste ohnehin, wer die junge Frau war. Er hatte sie als Letzter gesehen, als sie noch lebte ...

morgen mehr. ;)
 

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Neues Kapitel: Gewissheit

Helene Mantwied wusste nichts vom Krankenhaus-Aufenthalt ihres Familienfreundes und Mitarbeiters der Detektei. Ebenso wenig hatte sie Kenntnis über die Vorkommnisse in einem Waldstück des Bayrischen Walds, und obwohl sie davon wie Michael Drehbusch aus der Plattlinger Presse erfuhr, brachte sie das Gelesene in keinster Weise mit ihren Mitarbeitern in Verbindung.
Dennoch überkam sie das Schaudern bei dem Artikel: Vier Leichenfunde in einer Nacht, sie wagte es kaum, sich auszumalen, wie die Feuerwehrmänner sich fühlen mussten. Ein Waldbrand war ja bestimmt schon schlimm genug, aber dann auch noch ein Schauplatz mehrerer Morde ...
Der artikelführende Reporter sprach von einer regelrechten Menschenjagd, die stattgefunden haben musste. Zumindest spräche alles dafür, insbesondere durch den grausamen Mord an einer jungen Frau.
Ersten Indizien zufolge wurde sie mit Unmengen von Dartpfeilen "erlegt" - bezeichnend verwendete der Schreiber genau jenes Wort. Morbiderweise schien es zudem wie die Faust aufs Auge zu passen, denn das Opfer war auf einer Lichtung wie Vieh an einen morschen Pfahl angepflockt.
Fast gegen ihren eigenen Willen wanderten Helenes Augen immer wieder zu diesem Foto, obwohl sie für blutrünstige Zurschaustellung in der Regel nicht viel übrig hatte. Sie befand sich gerade in einem kleinen Aufenthaltsraum der Detektei, machte eine kurze Pause zwischen zwei Kundengesprächen und las dabei Zeitung. Das Gesicht der Frau kam ihr bekannt vor, auch wenn es unter dem Raubkatzenmuster, mit dem der nackte Körper bemalt wurde, kaum erkennbar war. Zudem war die Tote über und über mit kleinen, gefiederten Pfeilen bespickt. Kleine Blutrinnsale verteilten sich auf dem gestochen scharfen Farbfoto zwischen den einzelnen Elementen des Body Paintings. Ihr Körper kauerte in Embryo-Haltung zwischen zwei Kiefern.
Zitternd führte Helene ihre Kaffeetasse zum Mund und fluchte, als ihr ein heißer Schwall Kaffee den Hals verbrühte. Die Berichterstattung und vor Allem das Bild wühlte sie auf. Je mehr sie darüber nachdachte, um so überzeugter war sie davon: Das war Tamara. Kaum jemand hatte so schön lange Ebenholzlocken wie sie, und deshalb war sie sich zu neunzig Prozent sicher. "Nein, neunundneunzigkommaneun", widersprach sie sich selbst, faltete die Zeitung noch etwas mehr auseinander und legte sie glatt vor sich hin.
Der Waldbrand und die Morde waren der Aufhänger des Tages, und das Geschehen war offenbar zwei Tage her. Die Reportage zog sich bis in den Innenteil. Helene blätterte weiter und las ein Interview mit dem Einsatzleiter des betreffendes Tages. Was er von sich gab, konnte sie wirklich kaum glauben, doch plötzlich wurde sie stutzig.
"Sie werden es für unmöglich halten", hatte der Mann zu berichten gehabt, "aber plötzlich war der Wald voller exotischer Tiere. Wir haben Löwen gesehen, Hyänen gehört, ja, sogar ein Eisbär kam auf uns zu."
"Entweder will uns der Plattlinger Anzeiger einen Bären aufbinden", murmelte Helene vor sich hin, "oder der spinnt." Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass noch etwas Zeit war. Hungrig biss sie in eine Schinkensemmel und kaute selbstvergessen vor sich hin, während sie weiter las.
Der Interview-Führer fragte nach, ob er nicht vielleicht Löwen mit Luchsen verwechseln würde. Das sei ihm hinlänglich bekannt, dass es die gibt. Auch und insbesondere im Bayrischen Wald.
"Nein, nein, auf gar keinen Fall", hatte der Feuerwehrmann geantwortet und Unterstützung von einem Kollegen bekommen, der bekräftigend nickend daneben stand. "Die Tiere kamen auf der Lichtung, wo wir die Frau gefunden hatten, zwischen den Bäumen hervor."
Ein Gedanke ließ Helene nicht los. Sie kannte den Plan ihres Mannes, den Wilderern in die Parade zu fahren. Wie genau er es anstellen wollte, wusste sie nicht, und vermutlich würde sie es auch nie erfahren. Allerdings kannte sie seine Vorliebe für technische Spielereien. Sein ganzer Stolz war eine Armada von Projektoren und Kameras, die er sich im Lauf ihrer fünfzehn Jahre Ehe angeschafft hatte.
Das Highlight war eine Dual-Anlage (zusammengesetzt aus mehreren Beamern und leistungsstarken Dolby-Surround-Lautsprechern), die in der Lage war, Acht-D-Hologramme und hochwertigen Sound abzuspielen. Jürgen hatte die Geräte erst letztes Jahr gekauft, und auch Mick war an den immensen Kosten beteiligt gewesen.
 
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Sie erinnerte sich, aus dem Staunen nicht mehr heraus gekommen zu sein, als er kurz nach dem Kauf eine Tiershow vom Allerfeinsten auf einer abgelegenen Wiese vorgeführt hatte. Die Bilder hatten so echt gewirkt; die passende Geräuschkulisse dazu, und die Zuschauer hatten sich gefühlt wie auf einer Safari.
"Wenn unsere Detektei keinen Gewinn abwirft", hatte er damals zu ihr gesagt und sie mit glänzenden Augen an sich gedrückt, "gehen wir mit unserer Show auf Tournee." Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie daran dachte. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört, und allmählich war sie versucht, den beiden Ermittlern zu glauben.
Vorgestern hatte sie noch Hoffnung gehabt, als sie den Brief gefunden hatte. Mittlerweile vermutete sie jedoch einen grausamen Scherz. Er war nun schon so lange fort, und vieles sprach dafür, dass ihr Mann nicht mehr kam.
Die Tür ging auf, und jemand rief ihren Namen. Aufgeschreckt sah sie nochmal auf die Uhr.
'Mist, ich habe die vermisste Katze vergessen', schalt sie mit sich selbst. "Moment, Frau Kaiser", rief sie nach draußen. "Ich komme gleich."

Die Chefin der Tier-Detektei stellte ihr Geschirr in die Spüle, legte die Zeitung zusammen und steckte sie in einen Ständer. Vor dem Spiegel fuhr sie sich mit beiden Händen durch ihr kurzes Haar und ging zu ihrem Büro. Ihre Kundin wartete bereits ungeduldig vor der Tür.
Helene schloss auf und bat sie herein. Nachdem sie ihr Platz angeboten hatte, legte sie der Frau die gedruckten Plakate vor. "Ich habe mich schon mit verschiedenen Vereinen und Tierärzten in Verbindung gesetzt", erklärte sie ihr. "Haben Sie Ihre Blacky chippen lassen?"
Frau Kaiser schüttelte den Kopf. "Das habe ich bisher versäumt", antwortete sie. "Wenn Sie mir meine Kleine wieder zurückbringen, hole ich das sofort nach."
"Ich werde sehen, was wir tun können. Als Erstes verteilen wir im Umkreis von fünfzig Kilometern Plakate und Flyer, setzen Annoncen in Web und Zeitung."
Die Kundin richtete mit gezierten Gesten ihre silbergrau ondulierte Frisur und setzte sie über die bereits ergriffene Eigeninitiative in Kenntnis: "Ich habe auch Frau Biesenkopf angerufen. Ihre Sekretärin hat versprochen, dass sie sich umhören wird." Sie sah die Tierdetektivin hoffnungsvoll an. "Wenn so viele Menschen mich unterstützen, bekomme ich meine Miez bestimmt wieder zurück."

Helene Mantwied wurde hellhörig und dachte an das Bild der toten Frau. "Haben Sie mit der Chefin selbst gesprochen?"

Frau Kaiser verneinte. "Sie hätte Urlaub, hat ihre Sekretärin gesagt."

Tamara Biesenkopf war die Gründerin eines Vereins, der sich auf Katzen spezialisiert hatte. An die Katzenhilfe e.V. waren mehrere Pflegefamilien angeschlossen, sowie eine kleine Auffangstation für Streuner. Soviel Helene wusste, war die junge Aktivistin zudem über WWF in das Projekt "TransLynx" involviert und engagierte sich für die Artenerhaltung von Wölfen und Luchsen.
Allmählich kamen ihr Zweifel. Weshalb wurde Tamara ermordet? Hatte sie vielleicht im Bayrischen Wald die Wilderer in flagranti erwischt? Helene versuchte, eins und eins zusammenzuzählen und vergaß dabei ihre Kundin.
Frau Kaiser bemerkte ihre Geistesabwesenheit und brachte sich in Erinnerung: "Wissen Sie, Frau Mantwied, Ihr Mann war so fleißig. Ich habe Ihre Geschichte damals in der Zeitung gelesen, wie Sie mit Ihrer Detektei anfingen. Und ich habe sein Foto gesehen, als ich auf der Polizei war. Stimmt es, dass man nach Ihrem Mann fahndet?"
"Mein Mann ..." Helene versuchte, Fassung zu wahren. "Ja, es stimmt. Ich habe ihn als vermisst gemeldet. Er ist seit zwei Wochen weg." Um das Thema zu wechseln, schob sie ihrer Kundin einen Flyer mit dem Foto der vermissten Katze zu. "Schauen Sie mal bitte, ob alles richtig ist. Wir haben sowohl Ihre als auch unsere Telefonnummer angegeben. Verteilen werden wir sie ..."
Ein Summen ihres Handies kündigte den Eingang einer SMS an. "Kleinen Moment, Frau Kaiser." Unter den neugierigen Blicken der molligen Frau griff sie neben sich in ihre Ablage, nahm das Handy und verließ den Raum. Die Tür ließ sie offen.
Die Nummer, die auf ihrem Smartphone angezeigt wurde, war ihr nicht bekannt. Helene lehnte sich gegen die Wand und blätterte die SMS auf.
Als sie die Nachricht überflog, wurde sie bleich. "Dein Mann ist seit heute im Leichenschauhaus. Ich hoffe, du weißt, was du zu tun hast." Leise murmelnd las sie den Text noch einmal nach.
Plötzlich begann ihr Antlitz, zu leuchten. Noch einmal kehrte ihr Blick zu dem kleinen Bildschirm ihres Handies zurück. "Ps: Erinnerst du dich an Glatzen-Inge? Ob es der noch immer in Augsburg gefällt?", flüsterte sie. "Er lebt ..."
Voller Inbrunst griff sie sich ans Herz, löschte die SMS und kehrte mit einem glücklichen Lächeln zu Frau Kaiser zurück. Nach ein paar belanglosen Abschlusssätzen komplimentierte Helene ihre Kundin zur Tür hinaus und schloss hinter ihr ab. Sie suchte eine Visitenkarte heraus und wählte die Nummer des Ermittlers, der ihr die Hiobsbotschaft über den vermeintlichen Verbleib ihres Mannes vor einiger Zeit überbracht hatte.
Mit klopfendem Herzen versuchte die Tierdetektivin, keine falschen Hoffnungen in sich aufsteigen zu lassen. Ihre Finger trommelten nervös auf das Holz ihres Schreibtischs, während sie darauf wartete, dass der Mann abnahm.
"Kommissar Weitner?" Atemlos sprach sie in den Hörer, als Helene die Stimme des Beamten vernahm. "Helene Mantwied hier, Sie erinnern sich bestimmt noch an mich. Sie haben mir Ihre Visitenkarte gegeben." Konzentriert lauschte sie auf seine Antwort und überlegte, ob sie das Richtige tat.
 

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Als er von Gedankenübertragung sprach, lächelte Helene zerstreut und fuhr fort: "Ich rufe wegen der ermordeten Frau in der Zeitung an. Kennen Sie ihre Identität?"
Am anderen Ende der Leitung lehnte sich Kommissar Weitner in seinem Stuhl zurück und rief sich das Bildnis seiner Gesprächspartnerin vor Augen. Vor ihm lag ein Aktenordner. Er schlug ihn auf und suchte nach der Protokoll-Kopie des letzten Zeugenverhörs im Fall Mantwied. Mittlerweile wurde der Vermisstenfall als Mordfall behandelt. Mit übereinander geschlagenen Beinen begann er, zu schaukeln und konzentrierte sich auf Helene Mantwieds Frage. Sie warf ihn aus der Bahn.
"Womit habe ich Ihre rege Anteilnahme an den neuesten Vorkommnissen in Neuschönau verdient?", wollte er wissen. Er bemühte sich, sein Misstrauen aus seiner Stimme zu bannen.
"Ich habe das Bild Ihrer Toten in der Zeitung gesehen", antwortete Helene lakonisch. "Ich kenne die Frau, und ich dachte, das würde Sie interessieren."
"In der Tat", brummte er in den Hörer. "Wobei mir auffiel, dass sie mir zumindest optisch nicht unbekannt ist. Sie war auf den Fotos von einem der Handies Ihres Mannes mit drauf."
Kommissar Weitner überlegte, ob er ihr unerfreuliche Neuigkeiten telefonisch mitteilen solle und kam davon ab. Er würde ihr einen Plattlinger Beamten mit einer offiziellen Vorladung schicken. Der Ermittler richtete seinen Fokus auf die Morde im Bayrischen Wald und war neugierig, was sie ihm mitzuteilen hatte. "Also, Frau Mantwied, was gibt's?", fragte er forsch.
"Wenn ich mich nicht arg irre, heißt die tote Frau Tamara Biesenkopf und war aktive Tierschützerin im Auftrag der WWF. Zudem war sie die Gründerin der Plattlinger Katzenhilfe e.V." Helene Mantwied legte ihre Füße auf den Schreibtisch und wartete ab.
Mit abwesendem Blick sah sie aus dem Fenster und dachte an Jürgen. Eigentlich hätte sie ihre eigenen Esel zu kämmen, doch andererseits fühlte sie sich verpflichtet, sich als Zeugin zur Verfügung zu stellen, sofern sie dies konnte. Irgendein Gefühl sagte ihr außerdem, dass es eine Verbindung zu dem Verschwinden von Jürgen gab, und die Mitteilung ihres Gegenübers hatte sie darin bestärkt.
Als sie dessen überraschtes Aufschnaufen vernahm, kehrten ihre Gedanken zurück zum aktuellen Gespräch. "Frau Mantwied, sind Sie da absolut sicher?", fragte Kommissar Weitner, beugte sich in seinem Sessel vor und begann, ungeduldig mit einem Stift auf seinen Eichenschreibtisch zu klopfen.

"Ja. Mir ist bewusst, dass man das Gesicht nicht erkennen kann, aber ich erkenne die Frau an ihren Haaren und der Statur."

Es entstand ein längeres Schweigen. Geduldig wartete Helene auf seine Antwort. Der Beamte druckste herum, dann fragte er: "Weshalb rufen Sie wirklich an? Warum sind Sie so stark daran interessiert?"
"Dort, wo die Morde geschahen, ist Luchsgebiet. Und ich sehe da einen Zusammenhang", antwortete sie sachlich.

"Hmmm ...", Kommissar Weitner rieb sich das Kinn, was Helene natürlich nicht sah. "Ich habe noch ein Problem. Inwieweit wissen Sie Bescheid, was passiert ist?"
"Ich weiß nur das, was in der Zeitung stand. Weder weiß ich, wieviel Menschen ums Leben kamen, noch wer. Außer bei dieser Frau, weil der Plattlinger Anzeiger darüber berichtet hat." Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Kommissar Weitner, mich interessiert das Ganze deshalb, weil ich auch nur Antworten suche."
Helene Mantwied schluckte in Gedanken an ihren Mann ihre Tränen hinunter und fuhr fort: "Ich habe Ihnen schon gesagt, dass Wildererbanden im Wald ihr Unwesen treiben. Unsere Detektei ist darauf bedacht, alles, was in unserer Macht steht, zu tun, dass unsere Projekte nicht scheitern." Plötzlich brach es aus ihr heraus, und Helenes Stimme klang beinahe flehend durch den Äther. "Wenn ich nur wüsste, was mit meinem Mann ist. Ich kann es einfach nicht glauben, dass ich ihn nie wieder sehen werde."
Ihr wurde bewusst, wie irrsinnig es war, etwas in ein paar erhaltene Zeilen von Unbekannt hinein zu interpretieren, doch das behielt sie für sich.
Dennoch fragte sie sich, wer sich in ihrem Leben so gut auskannte, dass jenerwelcher Zugriff auf ihre gemeinsame Vergangenheit und ihren ehemaligen Bekanntenkreis hatte. Helene griff sich an den Kopf im Versuch, ihren Verstand zusammenzunehmen und sich nichts anmerken zu lassen. Mit brüchiger Stimme fragte sie den Ermittler: "Haben Sie Neuigkeiten für mich?"
Mitleidig krampfte sich Kommissar Weitners Seele zusammen. Er spürte ihre Verzweiflung und war kurz davor, ihr die neueste Hiobsbotschaft zu unterbreiten. Thilo fasste einen Entschluss. "Frau Mantwied, sind Sie zu Hause? Ich würde gern bei Ihnen vorbei kommen. Bis in einer halben Stunde wäre ich in Plattling."
Helene zögerte. "Momentan bin ich noch in der Detektei." Nachdenklich kratzte sie sich an der Stirn. "Worüber möchten Sie reden?" fragte sie.

"Das will ich Ihnen nicht am Telefon sagen. Jedenfalls wäre es wichtig. Ich sage nur kurz meinem Kollegen Bescheid, dann fahre ich los."
 

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"Wird er dabei sein?"

"Nein, wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich ohne ihn." Der Ermittler zog sein Laptop zu sich her und öffnete das interne Postfach. Flink tippten seine Finger eine Nachricht an Hauptkommissar Falk, seinen Kollegen. Mit halbem Ohr lauschte er in den Hörer, und nach ein paar verabschiedenden Worten beendeten sie das Gespräch.
Thilo Weitner schloss den Deckel des Laptops und klemmte ihn sich unter den Arm. Sein Büro hatte er immer dabei, egal, wohin der Weg ihn auch führte. Der attraktive Hüne war 36 und Single, für die Liebe hatte er keine Zeit. Er hatte sich für die Laufbahn eines Kriminalbeamten entschieden, und bis dato hatte er diesen Schritt niemals bereut. Seit er im Fall Mantwied ermittelte, geriet er immer mehr in den Sog seiner Gedanken, und nicht alles hatte mit seinem Beruf zu tun. Er hatte sich beeindrucken lassen, und das war etwas, was ihm noch nie passiert war.

Bevor er die Tür öffnete, legte er seinen Laptop noch einmal zur Seite und trat vor einen mannshohen Spiegel. Eigentlich war er nicht eitel, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ihm daran gelegen, gepflegt vor seine Zeugin zu treten.
Thilo griff an den Kragen seiner ärmellosen Seidenweste und zupfte ihn mit schlanken, sehnigen Fingern zurecht. Er knöpfte ihn zu, sah an sich herunter und strich eine Falte aus seiner Jeans.
Mit skeptischer Miene tastete er über sein unrasiertes Kinn und griff kurz entschlossen zu einem elektrischen Rasierapparat. Ein gutgelauntes, melodisches Summen - was ihm im Nachhinein völlig fehl am Platz schien - vermischte sich mit dessen dumpf-technischem Brummen.

Abschließend fuhr er mit einem Kamm durch seine widerspenstige Lockenfrisur, musterte sich selbstkritisch von oben bis unten und verließ mit seinem Laptop den Raum. Während er durch den Flur schritt, streckte Kommissar Falk den Kopf zur Tür heraus. "Was willst du ihr sagen?", fragte er ihn. Seit einiger Zeit waren sie zum "Du" übergegangen und trafen sich hin und wieder auf ein Helles in der Kneipe am Bahnhof.

"Tja, das ist die Frage. Schlechte Nachrichten zu überbringen ist nicht gerade mein Hobby."

"Meinst du wirklich, dass er es ist?"

"Jedenfalls spricht alles dafür. Die Leiche trug die Kleidung des Vermissten, die Statur passt, auch wenn der Rest nicht mehr erkennbar ist. Ich hole mir von der Zeugin die Bestätigung." Thilo winkte Bertram Falk verabschiedend zu und fuhr mit dem Aufzug nach unten.
Während der kurzen Wegstrecke Autobahn ließ er Revue passieren, was die Kripo Deggendorf bislang in Atem hielt. Zu dem mysteriösen Mord am Höllenstein-See kam nun auch noch eine ganze Serie von ungeklärten Todesfällen hinzu, und zudem eine weitere Vermisstenanzeige. Letztere war aus Schwabach in die Verteiler der verschiedenen Dienststellen gekommen.
Hierbei handelte es sich um ein junges Mitglied der Wasserschutz-Polizei. Egon Triebentorf war laut Aktenlage seit zwei Tagen nicht mehr zur Arbeit gekommen. Die vermisste Person gehörte zu einer Taucherstaffel, die für die Flüsse und Seen im Kreis Straubing verantwortlich war. Es schloss sich der Kreis seiner Gedanken, und Kommissar Weitner stand wieder am Anfang. Während er mit seinem BMW zügig drei Lastwagen überholte, ohne sich um das Hupen des Mittleren zu scheren, sah er die zarte Gestalt von Helene fast plastisch vor sich.

"Du musst aufpassen, Junge", mahnte er sich selbst. "Eine verheiratete Frau, ein vermisster Ehemann, womöglich ermordet ..."

Thilo schwenkte auf die rechte Spur ein und drehte die Musik lauter. Celine Dion ging gerade mit Glanz und Gloria unter und nahm Leo mit hinab in ein nasses Grab.
'Willkommen auf der Titanic, sogar die Musik passt dazu', sinnierte er. Triebentorfs Kollegen waren es gewesen; sie hatten unweit der Stelle, an der ein Luchs angeschwemmt worden war, einen unförmigen Sack aufgetrieben. Dessen Inhalt war nicht sehr erfreulich und befand sich aktuell im Leichenschauhaus.
Demnächst ging das Opfer über zur Gerichtsmedizin. Dass der Mann keines natürlichen Todes gestorben war, lag auf der Hand. "Geknüppelt und ertränkt wie eine räudige Katze", murmelte er vor sich hin und ließ die Bilder vor seinem inneren Auge vorüber ziehen.

Ersten Einschätzungen von Manfred Wagner - dem verantwortlichen Gerichtsmediziner - zufolge war die Tat nicht erst gestern geschehen. Der Körper des Ermordeten hatte länger im Wasser gelegen; vorsichtig hatte Wagner von ein bis zwei Wochen gesprochen. Alles Weitere würde bei der Obduktion festgestellt werden.
Von Weitem sah er das riesige Schild des örtlichen Einkaufszenters. Das grüne Logo mit Globus und Schriftzug war auf einem turmhohen Stahlgerüst aufgepflanzt und zeigte beizeiten an, dass er in Plattling angelangt war. Unweit davon befand sich im nächsten Ortsteil die Klapse, und Thilo hatte auch schon so manche Bekanntschaft mit potentiellen Insassen gemacht.
Die aktuellen Fälle jedoch, die seiner Meinung nach irgendwie zusammen hingen, waren ganz andere Kaliber und rochen für Kommissar Weitner nach organisiertem Verbrechen. Es war seine Intuition, und diese führte ihn zu Helene Mantwied, der Witwe des mutmaßlich ersten Opfers einer Wildererbande - zumindest sah es ganz danach aus.
Als sein Handy klingelte, nutzte er die Nähe des Supermarkts und steuerte einen der Parkplätze an. Mit einem Blick aufs Display erkannte er gleich, wer am anderen Ende war. Kommissar Weitner stellte sein Fahrzeug ab und schaltete seine Freisprecheinrichtung ein. Kollege Falk bat ihn, die Zeugin nach Egon Triebentorf zu fragen.

"Gibt es was Neues?", wollte er wissen.

"Ja. Soeben ist der Bericht aus Grafenau gekommen. Eines der Opfer, die beim Waldbrand in Neuschönau ums Leben gekommen sind, muss Triebentorf sein. Es wurden zwei Leichen an einer Stelle gefunden, die als Brandherd vermutet wird. Das Feuer wurde gelegt."

"Und du meinst, dass sie ihn kennt?"

"Ich meine nicht, nein. Klopf einfach mal auf den Busch. Ich vermute ...", Kommissar Falk betonte Letzteres, "dass mindestens zwei der Toten dort oben im Wald zu den Gegnern von TransLynx gehörten. Triebentorf und die ermordete Frau passen rein gar nicht ins Bild."

Thilo Weitner bückte sich zum Beifahrersitz und öffnete sein Handschuhfach. Sekundenlang kramte er darin herum, bis er fand, was er suchte. Er steckte sich ein Eukalyptus-Bonbon in den Mund und nuschelte lutschend: "Erzähl mir mehr. Triebentorf gehörte zur Taucherstaffel, oder?"

"Korrekt. Es war purer Zufall, dass er so schnell identifiziert werden konnte. Er hatte den gestrigen Zahnarzttermin versäumt, und sein Dentist hörte von den Vorfällen im Wald. Er meldete sich bei der Polizei und steuerte ein paar Röntgenaufnahmen bei; das war gestern Mittag. Soeben kam die Bestätigung aus der Gerichtsmedizin, dass die Zahnstrukturen identisch sind."

"Wie kam er ums Leben?"

"Er ist verbrannt, gemeinsam mit einem weiteren Opfer, von dem wir noch nicht wissen, wer das ist." Kommissar Falk seufzte in sein Telefon. Am anderen Ende der Verbindung entfernte Thilo den Kopfhörer für einen kurzen Moment und fuhr mit seinem Zeigefinger in die Ohrmuschel, um sich zu kratzen. Angewidert verzog er sein Gesicht.
"Wieviele waren es insgesamt?", fragte er, pfriemelte den kleinen Lautsprecher wieder ins Ohr und trommelte ungeduldig auf seinem Lenkrad herum. Seine Augen schweiften abgelenkt zum Eingang des Marktes. "Das ist doch ..." murmelte er vor sich hin.

"Was hast du gesagt?", fragte Kommissar Falk.

"Muss aufhören. Ich habe gerade Kahlmann gesehen, glaube ich. Den schnappe ich mir." Er warf dem Vermuteten einen weiteren Blick hinterher. Der große Mann betrat mit wehender Mähne den Eingang des großen Einkaufscenters, und als er ihm sein Gesicht zuwandte, war Thilo sich sicher. Abrupt beendete er das Gespräch, stieg aus und lief ihm nach.
Kurz bevor der Gesuchte den Baumarkt betrat, bekam er ihn zu fassen. "Herr Kahlmann?", sprach er ihn an. Verwundert drehte der Angesprochene sich um und musterte Kommissar Weitner von oben bis unten.
"Ja bitte?", fragte Winnie ausgesucht höflich und stellte sich an die Seite, um dem Kundenstrom, der gerade den Eingang flutete, nicht im Weg zu stehen.
 

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Der ihm unbekannte Kommissar folgte ihm und kam sofort zur Sache. "Mein Kollege und ich waren kürzlich bei Ihnen zu Hause in Sachen Mantwied. Wir suchen Sie und Herrn Drehbusch schon seit mehreren Tagen." Lässig lehnte er sich gegen die Wand und verschränkte die Arme.

"Ich verstehe nicht ..." Winnie sah ihn mit ratlosem Gesichtsausdruck an und fragte sich, was der Mann von ihm wollte.

Thilo Weitner klatschte sich an die Stirn. "Verzeihen Sie." Er griff in seine Brusttasche und zog seine Dienstmarke heraus. "Kripo Deggendorf, Kriminaloberkommissar Weitner mein Name."
"Ah so. Und wie kann ich Ihnen helfen?" Neugierig sah Winnie dem jungen Beamten ins Gesicht und versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen. In Anbetracht der Umstände packte ihn ein ungutes Gefühl, die Bilder jener Schreckensnacht noch vor seinem inneren Auge.
"Könnten Sie morgen ins Deggendorfer Präsidium kommen? Es geht um eine Zeugenaussage im Vermisstenfall Mantwied. Bestimmt haben Sie schon vom Verschwinden Ihres Vorgesetzten gehört."
Winnie nickte. "Ja, dass er gesucht wird, ist mir bekannt. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen da weiterhelfen soll. Ich war seit einiger Zeit nicht mehr in der Detektei."

"Wissen Sie vielleicht, wo ich Herrn Michael Drehbusch auffinden kann?"

"Auch dessen Aufenthaltsort ist mir nicht bekannt. Fragen Sie doch unsere Chefin, die weiß bestimmt mehr."

"Das werde ich machen. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Kommen Sie bitte trotzdem morgen zu uns?"

"Wenn Sie darauf bestehen ..." Winnie wich aus, als er einen Ellenbogen in die Seite bekam und stellte sich hinter einen kleinen Stehtisch. "Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit?", fragte er den Polizisten.

"Nein, danke. Ich bin auf dem Weg in die Detektei, wie ich schon sagte. Hatten Sie Urlaub?"

Winnie bestätigte ihm dies. "Hin und wieder setze ich mich einfach auf mein Motorrad und düse los, ohne Plan und ohne Ziel." So etwas Ähnliches hatte er auch Helene erzählt, und er hoffte, dass es glaubwürdig klang.

"Apropos Motorrad", nahm Weitner den Faden auf. "Haben Sie davon schon gehört, was im Bayrischen Wald bei Neuschönau passierte?"

Winnie blickte zu Boden. "Ein Waldbrand, ja, habe davon gehört. Schlimme Sache."

"Es sind auch Menschen ums Leben gekommen. Sie waren nicht zufällig vor Ort?" Thilo legte seine "Hundemarke" auf die Platte des Tischs, beugte sich vor und sah seinem Gegenüber direkt in die Augen. Für einen Moment sah er Entsetzen in Kahlmanns Blick aufflackern, nur für den Bruchteil einer Sekunde.
"Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee? Ich bin erst seit heute wieder in Deutschland." Winnie spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken rann. Drastisch sah er Tamaras Leiche vor seinem inneren Auge; ebenso die beiden Morde an Phillip und Egon, wobei er Augenzeuge geworden war. Auch Mick wäre fast ums Leben gekommen. Hätte Jürgen seinen Freund und Arbeitskollegen an jenem Tag nicht gefunden, wäre dieser verblutet.
Winnies Auflehnung prallte an Kommissar Weitner ab wie ein Gummiball. Er spürte jedoch, dass er mit Auf-den-Busch-klopfen nicht weiter kam und verharmloste die Frage. "Es war nur so ein Gedanke. Die Männer, die ums Leben kamen, gehörten zu einer Biker-Gang."
Schließlich klopfte der Ermittler mit der Faust auf den Tisch und verabschiedete sich. "Wir sehen uns morgen im Präsidium", erinnerte er noch einmal. "Kommen Sie morgens um zehn, da bin ich im Büro. Erster Stock links."
Kurz darauf stand Kommissar Weitner das zweite Mal der Frau gegenüber, an die er so oft dachte. Helene stand von ihrem Schreibtisch auf und trat vor ihn hin.
Thilo riss sich zusammen und versuchte, sich seinen Aufruhr in seinem Innersten nicht anmerken zu lassen. "Frau Mantwied? Können wir reden?", fragte er behutsam. Er sah die verhaltenen Tränen in ihren Augen und hätte sie gern tröstend umarmt.
Sie nickte und strich sich verlegen durchs Haar. "Deshalb sind Sie ja gekommen." Mit einer halben Körperdrehung wandte sie sich von ihm ab und wies auf den Besuchersessel vor ihrem Schreibtisch. "Machen Sie es sich bequem", forderte sie ihn auf und ging vor, ohne darauf zu warten, ob er ihr folgte.
"Ich bringe Ihnen keine guten Nachrichten, Frau Mantwied", beschied er ihr, nachdem er ihr gegenüber saß. "Und ich muss Sie bitten, mit mir zu gehen."
Mit großen Augen sah Helene ihn an und dachte an die SMS, die sie heute erhalten hatte. Darüber sprechen konnte sie nicht, doch es dämmerte ihr, was er von ihr wollte. Sie gab sich ahnungslos. "Ich erwarte noch Kundschaft, Kommissar Weitner. Erklären Sie mir bitte, was Sie veranlasst, mich zu verhaften."
"Von Verhaftung kann keinerlei Rede sein. Eher geht es um eine Identifizierung." Verlegen nahm er einen Bleistift vom Tisch und drehte ihn zwischen den Fingern. Eine Schweigepause ließ die Spannung im Raum ins Unermessliche steigen.
Thilo spürte, dass der Fall Mantwied drohte, ihn an seine Grenzen zu bringen und gestand sich ein, dass er befangen war. 'Ich hoffe nur, dass ich nicht drauf und dran bin, mich zu verlieben', dachte er und starrte auf einen imaginären Punkt an der Wand.
Helene nutzte die Pause zum Telefonieren. Kurz entschlossen sagte sie die letzten heutigen Termine ab. Beim zweiten Anruf sah sie, wie Weitner wieder zum Sprechen ansetzte und hob ihre Hand, um ihn zu stoppen. "Moment, bin gleich für Sie da", flüsterte sie Thilo zu und hielt den Hörer von sich weg.
Nachdem sie aufgelegt hatte, blickte sie ihn ruhig an. "Jetzt können Sie mir erzählen, was Sache ist." Helene Mantwied lehnte sich zurück und versuchte, gelassen zu bleiben. Es fiel ihr schwer.

"Seien Sie auf das Schlimmste gefasst", antwortete er. "Ich fürchte, nun ist es sicher."

"Sie haben meinen Mann gefunden?", hakte sie nach. Helene spürte, wie ihr Herz ängstlich zu flattern begann und verbarg ihre zitternden Finger in ihrem Schoß.

Er nickte zögernd. "Die letzte Bestätigung brauchen wir von Ihnen. Deshalb die Bitte, mich zu begleiten."

"Wohin genau?", fragte die Tierdetektivin mit unbeteiligt klingender Stimme. Ihr Blick ging ins Leere.

Thilo war befremdet. 'Wie kann sie so ruhig bleiben?', dachte er. Kommissar Weitner hätte mit allem gerechnet: Mit Tränen, mit Wut, damit, dass die Frau es nicht wahrhaben wollte. Diese offensichtliche Gefühlsarmut machte ihn indessen fast wütend.
In einem kleinen Winkelchen seines Herzens jedoch verspürte er etwas, was er nicht wahrhaben wollte: Hoffnung. Er versuchte, sich seinen Gefühlswirrwarr nicht anmerken zu lassen und professionell zu bleiben. "Der Mann ist noch in der Gerichtsmedizin. Genau genommen ist nicht viel zu erkennen, sicher ist nur, dass das Opfer vermutlich die Kleidung Ihres Gatten trägt. Deshalb hoffen wir auf Sie, dass Sie uns das bestätigen können."
Helene war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um seine Unbeholfenheit zu bemerken. Ihre Umgebung trat in den Hintergrund, und das Surren des Standventilators hinter ihr klang überlaut in ihren Ohren.
Sanft spielte der Wind mit ihren Haaren. Ihr war, als spürte sie die tröstende Hand ihres Mannes, doch als sie die schmerzhafte Realität wieder wahrnahm, stand hinter ihr nur Kommissar Weitner und hatte seine schlanken Finger auf ihre Schulter gelegt.
"Es tut mir so leid", klang seine Stimme rauh in ihr Ohr, und er brachte sie damit nur noch mehr aus dem Konzept. Abrupt stand sie auf. "Wollen wir gehen?" Helene fuhr ihren Laptop herunter und strich seine tröstende Hand weg wie eine lästige Fliege. Ohne sich um seine indignierte Miene zu kümmern, richtete sie ihre Habseligkeiten zusammen und schritt zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. "Kommen Sie. Oder wollen Sie Wurzeln schlagen? Ich muss abschließen."
"Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten." Dann folgte er ihr durch die Tür. "Wenn Sie bereit sind, fahre ich Sie hin. Wir müssen nach Grafenau." Mit einer Verlegenheitsgeste nestelte Thilo Weitner an seinem Kragen.

Helene zuckte die Schultern. "Wie Sie wollen. Fahren Sie mich dann aber auch wieder zurück?"

"Selbstverständlich. Umso länger kann ich Ihre Gesellschaft genießen."

Glockenhell lachte sie auf. "Ich kann allerdings auch ungenießbar sein. Zumindest sagt das mein Mann."

Während er neben ihr ging, warf er ihr einen schrägen Seitenblick zu. Kaum hatte sie ausgesprochen gehabt, fiel Trauer in ihren Blick. Es war, als ob Helene ihr eigenes Lachen in sich einsog, um es gefangenzuhalten.
Kommissar Weitner legte eine Hand zwischen ihre Schulterblätter, um sie in die Richtung seines Wagens zu lenken. Gegen ihren Willen bildete sich eine Gänsehaut auf ihren Armen. 'ich weiß nicht, was das ist', ging es ihr durch den Kopf. 'Bin ich durch das alles empfänglich geworden für andere Männer?'
Helene tat wie zufällig zwei große Schritte nach vorn und befreite sich. Schuldbewusst machte sich die 32-jährige Frau klar, was es bedeutete, den Mann in ihrem Rücken begleiten zu müssen. Amouröse Verwicklungen waren das Letzte, was sie gebrauchen konnte in ihrem Leben.
 

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Während der Fahrt in die 50 km entfernte Stadt herrschte Schweigen. Ein heißer Sommerwind blies durch sämtliche Öffnungen im Wagen und zauste an Kleidung, Haaren und Nerven der beiden Menschen, die ein ungewisses Schicksal zusammen geführt hatte. Auf Höhe Deggendorf brach es aus Thilo Weitner heraus: "Sie verwirren mich."

Er hätte seine Worte am Liebsten wieder zurückgenommen, doch es war zu spät. Helene blickte ihn überrascht an: "Ich ... Sie? Weshalb?"

Als ob er Halt suchen würde, umklammerte der Ermittler mit beiden Händen sein Lenkrad. "Macht es Ihnen gar nichts aus, die Sache mit Ihrem Mann?"
Helene sackte das Herz bis in den Magen. Wirkte sie kühl und berechnend auf ihn? Sie wusste nicht, was sie ihm darauf antworten sollte, fühlte allerdings, wie die Wut in ihr hochzukochen begann. "Sie machen es sich ein bisschen einfach, finden Sie nicht? Ich verbitte mir derartige Unterstellungen. Sie wissen rein gar nichts von mir."
"Dann erzählen Sie mir, was in ihnen vorgeht." Thilos Blick war unverwandt auf das graue Asphaltband gerichtet. Er verfluchte sich selbst, weil er hoffte, dass Helene ihren Mann nicht mehr lieben würde, dass sie offen für die Zukunft sein würde, dass sie keine Trauer über den Tod ihres Gatten verspürte.
Dennoch suchte er noch etwas Anderes in ihrer Seele: Die Wärme der Liebe, die er selbst in seinem Leben so sehr vermisste. So schwankten seine Emotionen zwischen Verachtung für eine vermeintlich eiskalte Frau, Hoffnung darüber, dass sie sich selbst nur vor seinem bohrenden Wissen-Wollen verbarg, zwischen Sehnsucht und einem unwiderstehlichen Fluchtinstinkt.
Noch war es nicht sicher, dass Jürgen Mantwied derjenige welche war, der im Leichenschauhaus darauf wartete, durch seine Frau den letzten Todesstoß zu erhalten, nur dadurch, dass sie ihn identifizierte.
'Was wird sie tun, wenn sie seiner ansichtig wird?', fragte sich Thilo. 'Wird sie weinen und klagen, stumm nicken, oder wird sie sich komplett verweigern?'
Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er ihre Antwort versäumte. Ihre Stimme rauschte sozusagen an seinen Ohren vorbei, es klang wie ein Brausen einer stürmischen Windböe, wie das Wogen des Meeres und doch wie die Stimme aus einer Felsengruft, was ihn veranlasste, zu schaudern.
Erst, als sie eine eiskalte Hand auf seinen Arm legte, sah er sie an. "Sie verwirren mich auch", hauchte sie leise. "Aber ich bin eine verheiratete Frau. Und ich habe meinen Mann immer geliebt."
"Nun ist er tot", warf er ihr mit harter Stimme entgegen und registrierte mit grimmiger Befriedigung ihr Zusammenzucken. Nach einer Weile jedoch überzog ein Lächeln ihr bleiches Antlitz, und ihr Blick wurde verklärt.
"Das mag ich nicht glauben", antwortete sie so leise, dass er ihre Worte zwischen dem satten Brummen seines Automotors und Verkehrslärm eher erriet, als dass er sie akustisch vernahm. Ein warmes Gefühl durchzog seinen Magen, und er verkniff sich ein liebevolles Schmunzeln.

Der Innenraum seines BMWs wurde zu einem Käfig von unerfüllten Wünschen und Träumen. Ihre Hoffnung rührte Thilo so sehr an, dass er sie insgeheim um Verzeihung bat. Zugleich brannte sich ihr Abbild so tief in ihm ein, so dass er vermeinte, niemals in seinem Leben wieder ein Auge für eine andere Frau zu bekommen. Ihm war, als wäre er für alle Zeiten erblindet, und sei es auch nur seine Seele.

Fast wünschte er sich, niemals das gemeinsame Ziel zu erreichen, doch irgendwann war es vorbei. Er sah sich gezwungen, alles so anzunehmen, wie es war, den Wagen zu parken und sie zu ihrem toten Mann zu geleiten.
Bereits am Eingang zur Halle spürte er, wie sie erstarrte. Helene blieb stehen und blickte verzweifelt auf die dunkle Tür. Schweiß stand auf ihrer Stirn, und allmählich wurde ihr die Endgültigkeit des Geschehens bewusst.

Stützend legte ihr Kommissar Weitner die Hand unter ihre Elle. "Kommen Sie, es kann Ihnen rein gar nichts geschehen. Ich bin bei Ihnen."

Ein Mitarbeiter in weißer Schutzuniform kam auf die beiden zu. "Wir haben Sie schon erwartet." Der Plastikmensch nahm Kommissar Weitner beiseite und fragte ihn leise: "Wird der Leichnam heute noch überführt?"
Dieser schüttelte ratlos den Kopf. "Das kann ich nicht sagen. Es kommt darauf an, ob es der Gesuchte ist oder nicht." Thilo wandte sich um und rief nach Helene. "Kommen Sie bitte?"
Die Gegenwart des Wächters machte es ihm leicht, seine emotionale Befangenheit abzustreifen und sich daran zu erinnern, wer er eigentlich war, wer sie war, und was sie hier taten.
In einer Kabine neben dem düsteren Vorraum bekamen sie ihre eigene Schutzkleidung gereicht, und anschließend führte sie der Mann die Korridore entlang. Nebenbei erzählte dieser von seinem Beruf und sorgte mit seinen Schauermärchen für Gänsehaut.
Kommissar Weitner war an die etwas seltsame Mentalität von Sigurd Nebel und seinen Kollegen gewöhnt, doch Helene Mantwied bekam das große Grausen. Nur mühsam beherrschte sie sich, um sich vor dem unbekümmert daher plaudernden Totenwächter nicht zu übergeben.

Mit der letzten Tür im letzten Gang eines fahl beleuchteten Labyrinths überschritt sie gemeinsam mit Kommissar Weitner die Schwelle zum letzten Begreifen. Eine Eisenklammer legte sich um ihr Herz, und am Liebsten wäre Helene geflohen bis ans Ende der Welt.
Noch einmal nahm sie der Ermittler beiseite: "Meinen Sie, dass Sie das schaffen?" Er bemerkte das totenbleiche Gesicht der Frau und hatte seine Bedenken. Zugleich hasste er sich selbst dafür, ihr das zumuten zu müssen.
Helene Mantwied nickte auf seine Frage und antwortete leise: "Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich weiß, was auf mich zukommt, und Sie machen auch nur Ihren Job."
Ihn anzuschauen, wagte sie nicht, aus Angst, dass er sie durchschaute. Es drängte sie danach, seine Wange zu streicheln, doch vor den Augen des Totenwächters streifte sie nur kurz seine Hand.
Diese kleine, unschuldige Geste genügte, um die kalte Luft im Raum zum Sieden zu bringen, doch sie zog daraus Kraft. Kurz entschlossen straffte sie ihren Körper und trat durch die Tür.
Zielstrebig drängte sich Sigurd Nebel an den beiden "Besuchern" vorbei und führte sie zwischen riesigen Kühlschränken mit mehreren Fächern und leeren Bahren hindurch in einen Nebengang. Unzählige Neonlampen waren an der Decke installiert und tauchten die fensterlosen Kellergänge in ein seltsam grünliches Licht. Undeutlich schimmerten dunkle Silhouetten durch weiß beleuchtete Milchglasscheiben und ließen erahnen, was sich in den Fächern verbarg.
Der Mitarbeiter des Leichenschauhauses trat erneut auf sie zu und sprach Helene an. "Sind Sie bereit? Sie müssen sich das nicht antun, wenn Sie nicht wollen."
Sie schreckte auf und nickte ihm zu: "Es ist schon gut, machen Sie Ihre Arbeit."

Sigurd ging auf ein Kühlfach zu und zog es langsam auf. Der tote Körper befand sich in einem schwarzen Leichensack. Mit einem letzten sich vergewissernden Blick zog er den Reißverschluss auf.
Helene schnappte nach Luft. Die Gesichtszüge des Toten zerflossen vor ihren Augen zu Brei. Rein gar nichts mehr erinnerte an diesem ballonartig aufgedunsenen Antlitz an einen einstmals lebendigen Menschen. Der zahnlose Mund klaffte wie ein Höllenschlund auf und war blutverschmiert. Die kahlgeschorene Schädeldecke spaltete ein gewaltiger Riss.
Mit einem Schmerzenslaut wankte sie auf Kommissar Weitner zu. Haltsuchend lehnte sie sich an ihm an und barg ihr Gesicht an seiner Brust. "Er ist es", murmelte sie erstickt in Thilos Weste hinein.

"Sind Sie sich sicher?", fragte er die geschockte Frau.

Sie nickte wild.

Kommissar Weitner bat Herrn Nebel, den Mann zu bedecken, und führte Helene hinaus. "Es tut mir sehr leid", sprach er seine Anteilnahme aus. "Ich hätte Ihnen das gern erspart, aber Sie waren die Einzige, die uns hätte weiterhelfen können."

"Ich weiß", schluchzte sie. "Nun habe ich wenigstens die letzte Gewissheit, dass es keine Hoffnung mehr gibt."

Er führte sie den langen Weg wieder zurück und bat sie, im Wagen zu warten. "Ich muss mit dem Kollegen noch etwas besprechen", erklärte er. "Ich bin wieder bei Ihnen, so schnell es geht."

Fortsetzung folgt
 

Lightning31

Geist des Berges
Es ist spannend und auch aufwühlend,diese Geschichte zu verfolgen!Setze sie bitte fort,wenn du wieder
Zeit und Lust hast,liebe Alidona!:)
 

Gelöschtes Mitglied 26332

;)

Kaum hatte Thilo Helene Mantwied verlassen, legte sich ein erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht. Ihre Ahnung, dass Jürgen noch lebte, hatte sich soeben bestätigt. Sie lehnte sich auf dem Beifahrersitz des BMWs zurück und nahm ihr klingelndes Handy aus ihrer Tasche. Die Tierdetektivin wünschte sich so sehr, Jürgens Lachen zu hören und seine Nähe zu spüren.
Als sie abnahm, sprach eine dunkle Stimme: "Gut gemacht, Mädchen. Ich hoffe, dass du weiterhin so gut kooperierst, sonst bist du bald nicht mehr so hübsch, wie du es bist. Und deinem Mann ..."

Der Unbekannte brauchte nicht weiterzusprechen. Die unverhüllte Drohung ging ihr durch Mark und Bein.

"Wer ... sind Sie?", fragte sie stammelnd.

"Das braucht dich nicht zu interessieren. Deinem Mann geht es gut, was willst du mehr?"

Helene sah, wie Kommissar Weitner aus dem Gebäude trat und auf sein Auto zusteuerte. Hastig beendete sie das Gespräch und löschte die Nummer. Unauffällig verschwand ihr Handy wieder in ihrer Tasche, und als er zu ihr einstieg, wandte sie ihm ein tränenüberströmtes Antlitz zu. "Ich danke Ihnen so sehr für Ihre Anteilnahme", sprach sie leise. "Aber jetzt will ich nach Hause."
Er nickte, startete den Wagen und fuhr vom Platz. Keiner der beiden bemerkte, wie Sigurd Nebel aus dem Gebäude trat und dem Wagen mit einem kalt abschätzenden Blick hinterher sah.
Als der BMW seinem Blickfeld entschwand, ging er zurück in seinen Arbeitsbereich, suchte ein Telefon auf und wählte schnell eine Nummer. "Sie sind weg", sprach er in den Hörer. "Aber der Bulle ist pfiffiger, als uns lieb sein kann."
"Solange sich niemand verplappert, kann nichts passieren", kam vom anderen Ende die Antwort. "Und Hauptsache, die Frau spielt brav die trauernde Witwe. Wenn was schiefgeht, rollt nicht nur unser Kopf, sondern auch deiner. Denk immer daran."

"Warum legt Ihr den Tierdetektiv nicht einfach um?", fragte Sigurd Nebel neugierig.

"Denk mal scharf nach." Die Stimme aus der Leitung klang spöttisch.

Der Totenwächter aus Grafenau kratzte sich nachdenklich am Kopf. Dann zuckte er ratlos die Schultern, was sein Gegenüber nicht sehen konnte. "Null Schimmer, sag' du es mir." Seine dunkle Stimme klang nicht sehr interessiert.
"Lebendig ist er uns nützlicher. Schließlich wurden letztens einige um die Ecke gebracht, und es laufen noch immer ein paar von denen herum. Mantwied ist das perfekte Bauernopfer, und im Knast wird es ihm bestimmt besser gefallen als in einem Grab."
Die selbstgefällige Boshaftigkeit seines Telefonpartners triefte Sigurd regelrecht durch den Hörer entgegen, doch er ließ sich davon nicht irritieren. Allerdings war er froh, dem Strohmann von Agricom nicht persönlich gegenüber zu stehen. Forsch hakte er nach: "Euer Plan ist genial. Aber wird der Mann euch nicht zu gefährlich?"
Ein hämisches Gelächter antwortete ihm. "Erstens sind wir nicht erst gestern geboren, und zweitens haben wir die richtigen Leute, die uns noch den einen oder anderen Gefallen schuldig sind."
Sigurd Nebel schaute über die Schulter. "Mein Kollege kommt", flüsterte er in den Hörer. "Muss aufhören." Er legte auf und musterte angelegentlich den Personalplan neben dem Telefon.
Als die Mittagsschicht neben ihn trat, fuhr er den jungen Mann an: "Du kommst reichlich spät. Ich hätte schon lange Feierabend gehabt." Grußlos ließ er den verdatterten Neuankömmling hinter sich stehen und verließ das Gebäude.
 
Status
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