Der letzte Erddrache
"Erddrache, lat. draco terrae. Fam. der Drachen. Länge bis 25m, Spannweite bis 30m, kann bis zu 800 Jahre alt werden. Ehem. verbreitet in ganz Unur, bewohnt vorzugsw. Steppen, Wüsten und steinige Gebirge. Lebensweise weitgehend unbekannt. Gilt heute als ausgestorben."
Herati klappte das Buch zu. Ein dicker in rotes Leder eingebundener Band. "Allgemeine Enzyklopädie von Elvenar, herausgegeben von der internationalen Vereinigung der Zauberer" war in goldenen Lettern darauf geprägt.
Es war ein wertvolles altes Buch. Herati hatte es vor vielen Jahren, als er noch jung war, von einem der fliegenden Antiquitätenhändler aus Unur gekauft. Ein ganzes Monatseinkommen hatte er dafür geopfert und tapfer gehungert, als seine Vorräte aufgebraucht waren.
Begleitend zum Eintrag gab es eine Zeichnung, auf der in blassem Gelb ein Drache mit ausgebreiteten Flügeln abgebildet war. Nicht viele Einträge in dem Buch waren bebildert, doch der Erddrache hatte eine Abbildung. Und genau deswegen hatte Herati das Buch damals unbedingt haben wollen. Irgendetwas daran hatte ihn fasziniert und nicht mehr losgelassen.
Seitdem wünschte er sich nichts mehr, als einen Erddrachen zu finden. Er konnte und wollte einfach nicht glauben, dass sie ausgestorben waren, und er suchte sie überall. Nicht, dass er jemandem davon erzählt hätte, aber still und leise hatte er sein ganzes Leben an diesem Traum ausgerichtet.
Aufgewachsen war Herati in einer wohlhabenden Bauernfamilie. Er wollte auch Bauer werden und später zusammen mit seinen Geschwistern den Hof weiterführen als Mehrfamilienbetrieb, wie es in der Gegend üblich war. Aber seine erste Begegnung mit den fliegenden Schiffen der Händlergilde machte diese Pläne zunichte. Er schloss sich ihnen an und fand Gefallen an ihrem Leben. Und so begann seine Suche. Als er irgendwann sein eigenes Schiff besaß, machte er, zusammen mit seiner Amunifrau Etschi und seinen sieben Kindern, die größten und weitesten Reisen von allen, und er wurde ein wohlhabender und angesehener Händler. Er kam weit herum, einen Erddrachen jedoch fand er nicht.
* * *
Das Luftschiff glitt leicht schwankend dem dunstigen Horizont entgegen. Die Seile und die mit stabilem Segeltuch bespannten Holzplanken knarrten leise, die rot-weiß gestreiften Segel blähten sich im Wind. Herati horchte zufrieden auf das gleichmäßige Brummen der unuriumbetriebenen Turbine. Es war ein warmer Frühsommertag, perfekt zum Reisen.
Etschi war unter Deck noch mit dem Backen diverser Kuchen und Torten beschäftigt, die Kinder standen am Bug und hielten Ausschau. Die Spannung stieg und ließ das Gelächter, Gerangel und die aufgeregten Stimmen nach und nach verstummen. Bald müssten sie aus dem Dunst auftauchen! Die Höfe der Familie! Bald würden sie die Großeltern, die Tanten, Onkel, und vor allem die vielen Cousins und Cousinen wiedersehen. Das alljährliche Familiensommerfest stand bevor.
Nicht lange und man konnte die Höfe inmitten der fruchtbaren Felder und Wiesen liegen sehen. Jubel brach aus. Etschi kam nach oben und gesellte sich zu den Kindern. Auch nach sieben Geburten und einem entbehrungsreichen, arbeitsamen Leben sah seine Frau immer noch wunderbar aus. Herati lächelte.
Sie steuerten einen kleinen kahlen Hügel an, der in der Mitte der Ländereien lag, und auf dem bis vor kurzem ein hoher Signalturm gestanden hatte, das Wahrzeichen der Familie. Leider war das Metall verwittert, und wegen zunehmender Einsturzgefahr hatte die Familie beschlossen ihn abzubauen. Nun würde der Hügel einen wunderbaren Liegeplatz für ihr Handelsschiff bieten.
Herati und seine Familie erlebten die nächsten Tage wie im Rausch. Die Kinder waren kaum mal zu sehen, nur die zwei jüngsten schliefen nachts bei ihren Eltern auf dem Schiff. Es war eine wunderbare ereignisreiche Zeit, voll mit Geschichten, Musik, Austausch von Neuigkeiten, gutem Essen, aber auch gemeinsamer Arbeit und Planungen für die Zukunft.
Als der Tag der Abreise gekommen war, stellte Herati jedoch fest, dass die Turbine seines Schiffes nicht mehr anspringen wollte. Er hatte noch genug Unurium im Tank, aber aus merkwürdigen Gründen war ihm die Energie entzogen worden. Auch neu beschafftes Unurium war nach kürzester Zeit matt und wirkungslos. Das Schiff ließ sich nicht bewegen. Die Familie beschloss, es vom Hügel herunter an einem geschützen Ort zwischen den großen Scheunen zu ziehen und dort zu warten, bis man in der Stadt Hilfe geholt hatte.
Seltsamerweise schien sich das Unurium nach ein paar Tagen zu regenerieren und Herati und Etschi fingen an, sich auf die Abreise vorzubereiten.
Eines Nachts erwachte Herati davon, dass das Schiff plötzlich schwankte und zitterte, als wäre es in einen Sturm geraten. Es war jedoch völlig windstill. Er weckte Etschi und sie gingen an Deck. Alles war ruhig. Doch dann fing das Zittern wieder an. „Dort!“, rief Etschi und deutete mit dem Finger zum Hügel. Der Hügel bebte, dann brach er auf und ein schattenhaftes Wesen kam an die Oberfläche. Im Dunkeln war es kaum zu erkennen, aber es streckte sich nach oben und breitete riesige Schwingen aus.
Inzwischen hatten sich andere Hofbewohner eingefunden, einige hielten Laternen hoch. Das Wesen schien sich zu fürchten, es sank in sich zusammen und versuchte sich wieder in der Erde zu vergraben. Dann blieb es erschöpft liegen und rührte sich nicht mehr.
Als der Morgen dämmerte, versammelten sich alle und gingen langsam den Hügel hinauf. Hirati führte die Gruppe an. Eine eigenartige Spannung hatte von ihm Besitz ergriffen. Er ahnte, was er da vor sich hatte.
Oben angekommen scharten sie sich um den Drachen, der matt dalag. Er blinzelte sie nur müde aus tiefblauen Augen an. Er hatte keine Schuppen wie andere Drachen, oder sie waren so fein, dass es aussah, als wäre er von grauem Sand bedeckt. Herati wusste sofort, dass es ein Erddrache war, kleiner als es zunächst den Anschein hatte, und es war offensichtlich, dass er krank war.
* * *
Ich erfuhr von der Geschichte, als die Händlergilden in meiner Stadt lagerten. Sie wurde an jedem Herd und an jedem Lagerfeuer erzählt. Ich schenkte ihr aber erst Beachtung, als ein Händler namens Herati des Öfteren in der magischen Akademie und in der Mondsteinbibliothek gesichtet wurde. Die Zauberer mögen es nicht besonders, wenn man sich in ihre Angelegenheiten mischt. Das bewegte mich schließlich dazu, Herati aufzusuchen. Nach einigem guten Zureden rückte er schließlich mit der Sache raus.
Wenige Tage später reisten wir mit einer Delegation von Zauberern und vielen Helfern zu den Höfen, um den Drachen zu holen. Er hatte eine dunkle Scheune bezogen. Dort lag er nun schon seit Monaten und rührte sich kaum. Als ich zu ihm trat, hob er den Kopf und ich sah in seine wunderschönen dunklen Augen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich trat zu ihm und legte meine Hand auf seine raue Nase.
Seither lebt er in meiner Stadt. Er hält sich gerne am Rand in einem ruhigen Wäldchen auf. Die Zauberer haben ihn mit viel Mana, göttlicher Saat und energiereichem Unurium wieder aufgepäppelt, doch er er bleibt gerne für sich allein. Er ist ruhig, freundlich und dankbar. Nach einem arbeitsreichen Tag gibt es nichts Schöneres für mich, als bei ihm zu sein. Ich setze mich zu ihm ins Gras, lehne mich an seine sandig wirkende Flanke und lausche seinem Atem.
Faye Enzwald