Zweibrücker Rundschau vom 05.09.2022
Das Grauen aus heiterem Himmel
Vor 50 Jahren fanden zum bisher letzten Mal Olympische Spiele in Deutschland statt. Im Sommer 1972 wollte sich die Bundesrepublik als weltoffenes, buntes Land präsentieren. Von den Spielen in München bleibt aber vor allem der Überfall palästinensischer Terroristen in Erinnerung, dem elf israelische Sportler und Trainer zum Opfer fielen.
Von Klaus D. Kullmann
Keine andere als die deutsche Jugendmeisterin im Hochsprung, Ulrike Meyfarth, verkörpert mit ihrem überraschenden Olympiasieg über die Weltrekordhöhe von 1,92 Meter so sehr das Bild vom jungen, frischen Deutschland. Weltoffen und gastfreundlich will es sein, „München 1972“ sollen heitere und unbeschwerte Spiele werden. 36 Jahre nach den Propagandaspielen der Nazis 1936 in Berlin und 27 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Doch die Idee von einem zukunftsweisenden Sprung einer 16-Jährigen zerstiebt in der darauffolgenden Nacht.
Um 4.10 Uhr des 5. September 1972 klettern acht palästinensische Terroristen über den Zaun des olympischen Dorfes, überfallen und besetzen um 4.35 Uhr das Quartier der israelischen Mannschaft, das wie alle anderen weder bewacht noch verschlossen war. Die Erinnerungen des Bad Dürkheimer Hindernisläufers Willi Wagner sind verräterisch: „Als wir aus dem Fenster schauten, sahen wir Polizeiautos, wir machten den Fernseher an, dann wussten wir Bescheid. Die Attentäter hätten nicht über den Zaun steigen müssen, denn die Kontrollen waren sehr locker, die wären auch so reingekommen.“
Welch ein Wahnsinn: Palästinenser greifen Juden an und töten sie. In Deutschland! Zunächst Mosche Weinberger (33), den sie vor die Haustür in der Conollystraße 31 legen, und Josef Romano (32), den sie verbluten lassen. Dann, rund 18 Stunden später, weitere neun israelische Geiseln. Einig wenige Mannschaftskameraden konnten fliehen.
Einen ganzen weiß-blauen Tag lang halten Palästinenser israelische Sportler in München gefangen und darüber hinaus die ganze Welt vor den Bildschirmen. In Israel waren erstmals Olympische Spiele im Fernsehen live zu verfolgen. Bis zu diesem elften Tag, als sich Unheil und Angst breitmachen und ein düsteres Szenario von Gewalt und Unvermögen die scheinbar heile Welt des Sport in einem toleranten Land zerstört.
Das Terror-Kommando „Schwarzer September“ fordert unter anderem die Freilassung von 234 Palästinensern aus israelischer sowie die der RAF-Mitglieder Andreas Baader und Ulrike Meinhof aus deutscher Haft. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher und Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber verhandeln, Unterhändler einigen sich mit den Terroristen darauf, sie und ihre Geiseln nach Kairo auszufliegen, aber Kairo lehnt ab. Genscher, der sich als Austauschgeisel angeboten hatte, war mit seinem gesamten Stab überfordert. Er sagte später: „Ich dachte: Was kannst du machen, du selbst? Und dann habe ich am Ende gesagt: Das darf nicht sein, dass in Deutschland wieder Juden ermordet werden.“ Aber es war so!
Unterdessen bereitet die Polizei – eine Beteiligung der Bundeswehr war gesetzlich verboten – eine, wie sich herausstellen sollte, stümperhafte Befreiungsaktion in Fürstenfeldbruck vor, wohin Geiseln und Geiselnehmer gegen 22.20 Uhr geflogen waren. Die Welt geht schlafen mit der erleichternden Nachricht der Agentur Reuters um 23.30 Uhr: alle Geiseln frei. Die Wahrheit beim Aufwachen aber schlägt niederschmetternd ein: Alle neun israelischen Geiseln – David Berger (28), Zeev Friedmann (28), Yossef Gutfreund (40), Eliezer Halfin (24), André Spitzer (27), Amitzur Shapiro (32), Kehat Shorr (55), Mark Slavin (18), Yakov Springer (52) – sowie der deutsche Polizist Anton Fliegerbauer (32) sind tot. Auch fünf der acht Terroristen, die anderen drei werden festgenommen. Um 0.05 hatte ein Terrorist eine Handgranate in einem der beiden Hubschrauber gezündet.
Weder im Innenausschuss des Deutschen Bundestages noch in der bundesdeutschen Presse wurde später eine deutsche Schuld am Debakel gesucht. Es sei „angemessen gehandelt und richtig entschieden“ worden, hieß es. Der israelische Mossadchef Zvi Zamir indes verurteilte den gescheiterten Befreiungsversuch als „ausgesprochenen Dilettantismus“.
Der Überfall auf die Israelis hatte Deutschland unvorbereitet getroffen. Zwar schlingerte die politische Lage zögerlich auf die Olympischen Spiele zu – seit Monaten mordete die Rote Armee Fraktion (RAF), ihre Rädelsführer waren in palästinensischen Camps in Waffenkunde und Kampftaktik ausgebildet worden, es gab offenkundige Spannungen zwischen Israel und den Palästinensern –, zwar waren Anschläge, wenn auch halbherzig, durchgespielt worden, etwa eine Entführung von Sportlern, eines Flugzeuges oder eines arabischen Prinzen. Aber eine terroristische Geiselnahme in einem Gebäude in Westeuropa gab es bis dahin noch nicht. Und das „Szenario 21“, eines der 26, die der Münchner Polizeipsychologe Georg Sieber aufzeigte, das der Wirklichkeit erschreckend nahe kam, wurde geflissentlich ignoriert. Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Mehr Polizeipräsenz in diesen Tagen hätte einfach nicht zur Vision von fröhlichen und heiteren Spielen gepasst.
Im kollektiven Bewusstsein der Menschen, das in diesen Tagen nach 50 Jahren wachgerufen wird, sind diese Olympischen Spiele nicht als die „heiteren Spiele“ abgespeichert, sondern als die blutigen.
In einer Umfrage unter den teilnehmenden pfälzischen Sportlern antworteten nahezu alle auf die Frage, was ihnen denn in Erinnerung geblieben sei mit: „das Attentat“. Welches in der DDR, die in München erstmals bei Olympischen Spielen unter eigener Flagge und Hymne einmarschierte, übrigens nie als solches bezeichnet worden war. Dort war immer nur von Tragödie die Rede.
FCK-Spieler Hermann Bitz, der alle sechs Spiele der deutschen Olympiamannschaft mitmachte, darunter das mit 2:3 verlorene Spiel gegen die DDR, sagte: „Wenn ich an die Olympischen Spiele 1972 denke, dann oft auch aufgrund des Überfalls auf die Israelis. Ich denke oft dran, sehr oft sogar. Es war alles total emotional.“
Sollen die Spiele, unterbrochen am 5. September um 15.35 Uhr und ausgesetzt am 6. September, weitergehen? Das war die Frage. Die Politik hatte kein Stimmrecht. Shmuel Lalkin, der israelische Chef de Mission, sagte: „Ich darf Ihnen hier versichern, dass die Sportler Israels trotz dieses niederträchtigen Verbrechens auch weiterhin an olympischen Wettkämpfen im Geiste der Brüderlichkeit und der Fairness teilnehmen werden.“ Olympia-Pressesprecher Hans „Johnny“ Klein, der spätere Bundesminister und Regierungssprecher, versicherte: „Es wird sich erweisen, dass die olympische Idee stärker ist als Terror und Gewalt“, was der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Avery Brundage, bei der Trauerfeier am Morgen des 6. September dann unmissverständlich unterstrich. „The Games must go on“, sagte Brundage bei der Trauerfeier unter diesem einzigartigen Zeltdach, das für Freiheit und Offenheit steht – die eine Hälfte des Stadions völlig offen, in die andere Hälfte fällt das Licht durch ein gläsernes Dach.
Und Organisationschef Willi Daume begründete die Entscheidung zur Fortsetzung der Spiele mit dem Satz: „Es ist schon so viel gemordet worden, wir wollten den Terroristen nicht erlauben, auch noch die Spiele zu ermorden.“ Gespielt wurden der Trauermarsch aus Beethovens Eroica und die Egmont-Ouvertüre. Hans-Jürgen Veil, der Silbermedaillengewinner im Ringen vom VfK Schifferstadt, erinnert sich: „Es gab eine Umfrage. Ich sagte damals, man könne die Spiele nicht weitergehen lassen. Im Nachhinein sage ich: Es war richtig so.“ Veil war nicht der einzige, der erst so und dann so fühlte.
Drei Wochen nach dem Attentat wurde die Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9) als Antiterroreinheit gegründet. Zwei Jahre später, am 7. Juli 1974, wurde unter dem Münchner Zeltdach Deutschland Fußballweltmeister. Das Attentat war für einen Moment verdrängt, aber nicht vergessen. Zum Glück nicht.
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