Der Mythos Wolf
Manche Göttin, die den Urtyp der weiblichen Fruchtbarkeit verkörperte oder als Lebensspenderin verehrt wurde, wie etwa Aphrodite und Artemis bei den Griechen oder die keltische Ceridwen, wurden häufig in Gesellschaft von Wölfen und Hunden gesehen. Da die Gottheit selbst Leben und Tod schenkte, galt dies auch für die Tiere in Ihrer Begleitung.
Der Göttervater Odin, der zugleich Kriegs- und Totengott der Germanen war, wurde auf dem Schlachtfeld von den Wölfen Geri und Freki begleitet.
Im alten Rom wurden bis in historische Zeiten verschiedene Wolfskulte gepflegt. Ein bekannter Wolfskult war mit dem Herdengott Faunus Lupercus ( „der Wolfsabwehrer“, von lateinisch lupus = Wolf ) sowie dem Luperkal, einer heiligen Grotte, verbunden. Diese lag am Nordwesthang des Palatins, und in ihr wurden die Begründer Roms, Romulus und Remus, von einer Wölfin gesäugt. Die Wolfsgestalt der Luperkalien verkörpert besonders intensiv Leben und Lebenskraft, als Folge davon aber auch den Tod.
Irgendwann im Laufe der vergangenen Jahrhunderte wurde die Gestalt des Wolfs, der noch als Beschützer von kleinen Kindern in Betracht kam, durch das Bild eines blutrünstigen Scheusals ersetzt.
Die meisten Menschen haben deshalb seit Kindesbeinen wohl immer noch Angst vor dem großen bösen Wolf.
Dies ist für mich zurückzuführen auf die Einstellung, die vom europäischen Christentum im Laufe vieler wechselhafter Jahrhunderte geprägt wurde. Wölfe sprechen den Bereich der Mythen im menschlichen Verstand an, und häufig stellen sie für uns die Geheimnisse des Lebens dar : die Lebensspendenden Kräfte der Erde und der Menschen, also auch die Sexualität.
Nicht von ungefähr bedeutet das lateinische Wort „lupa“ sowohl „Wölfin“ als auch „Hure“, hat das englische Wort „wolf“ die Nebenbedeutung „Schürzenjäger“, und wenn ein französisches Mädchen zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen hat, sagen ihre Landsleute hinterher : „Elle a vu le loup. ( Sie hat den Wolf gesehen.)“ Die Kirchen, insbesondere die katholische, standen jedoch jahrhundertelang mit der menschlichen Sexualität auf Kriegsfuß; sie setzten „weltlich Ding und Fleischeslust“ mit dem Teufel gleich und betrachteten sie als die größte Gefahr für die Menschheit.
Da verwundert es kaum, dass auch die Überbleibsel heidnischer Religionen, die noch Naturkulte und Wolfszauber betrieben, unbarmherzig verfolgt wurden. Deshalb ist es auch nicht weiter erstaunlich, wenn wir erfahren, schon lange vor der Einführung der Inquisitionen sei der Wolf mit dem Satan gleichgesetzt worden. Aus dieser Zeit stammt das Bild vom Wolf, der unter der Schafherde Christi wütet. Eine Gestalt, die Barry Lopez in Of Wolfs and Men wie folgt beschreibt :“Schon immer war der Wolf von Mythen umwoben und eine Vielzahl illustrer Gesichter wurden ihm angedichtet. Er war nicht nur der Leibhaftige mit flammendroter Zunge und gelben Schlitzaugen, dem der Schwefel nur so aus den Nüstern dampfte, nein, er war auch der menschenzerfleischende Werwolf. Auf ihn projizierten die Menschen solange ihre eigene Lust, Gier und Gewalt, bis er allgemein als Verkörperung dieser Eigenschaften galt.“ Daher mussten alle Wölfe umgebracht werden, am besten möglichst schmerzhaft, damit die Welt von diesem Übel befreit wurde.
Aber auch Werwölfe und Hexen wurden zu Abertausenden grausam gefoltert, bis sie ihre Lykanthropie, das heißt die Verwandlung in Wolfsgestalt und die damit verbundenen Sexualmorde gestanden. Anschließend verurteilte man sie zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Weshalb genau diese Menschen nun umgebracht wurden, ist nach Lopez Worten „eine Frage die schmerzhaft an die menschliche Seele rührt“. Das gleiche könnte man eigentlich auch für die abgeschlachteten Wölfe gelten lassen.
Als die Europäer im 18. Jahrhundert in großer Zahl in Nordamerika landeten, standen ihre Ideen noch völlig unter dem Einfluss der mittelalterlichen Darstellung von Hexen und Wölfen. Hinzu kam eine neue Begleiterscheinung, denn der Überlebenskampf der Siedler gegen die Wildnis war nicht nur allgegenwärtig sondern bot auch Stoff für neue Mythen. Die Siedler waren mit dem unbeirrbaren Gedanken gekommen aus dem wüsten Land ein Paradies zu machen, und für Raubtiere gab es in diesem neuen Garten Eden keinen Platz.
Auf beiden amerikanischen Kontinenten wurden Wölfe vehement verfolgt und zu Abertausenden umgebracht. In Nordamerika wurden sie von Ranchern, Kopfgeldjägern und professionellen Wolfsjägern in Fallen gefangen oder vergiftet. Man erschoss sie vom Flugzeug aus oder knallte sie am Boden ab.
Normalerweise verhalten sich Wölfe gegen den Menschen nicht aggressiv, sondern eher neugierig oder furchtsam.
Was veranlasste den damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Theodore Roosevelt, den Wolf mit der Bezeichnung „verschwenderische und zerstörerische Bestie“ schlechtzumachen und lautstark seine Ausrottung zu fordern ? Wieso verabschiedete ein kanadisches Provinzparlamt als eines der ersten Gesetze einen Erlass zur Finanzierung von Wolfsabschussprämien ? Wohlgemerkt, es geht hier nicht um den gezielten überwachten Abschuss einzelner Wölfe, sondern um den jahrhundertelangen blinden Hass, mit dem der Mensch den Wolf verfolgte und der praktisch zu dessen vollständiger Ausrottung in Europa, den Vereinigten Staaten und im besiedelten Teil Kanadas führte.
Eine Ursache für diese Leidenschaftliche Verfolgung war sicherlich der Schaden in der Landwirtschaft. Wölfe sind hochspezialisierte Raubtiere, die in freier Wildbahn hauptsächlich große Huftiere wie Elch, Hirsch, Moschusochse und Karibu reißen. Wo sich ihnen aber die Gelegenheit bietet, fallen sie natürlich auch Schafe, Ziegen und Rinder an. Bezeichnenderweise besaß der bereits erwähnte Wolfsgegner Roosevelt eine Ranch im amerikanischen Grenzgebiet. Seit den frühen Tagen der Landwirtschaft haben Wölfe Hausvieh gerissen und dadurch dem Menschen geschadet, und seit dieser Zeit werden sie auch ständig verfolgt.
Die Aufklärung, die in den 60er Jahren ihren Höhepunkt fand; und auch die Ökologie als neue Wissenschaft ansah, brachte einen allgemeinen Gesinnungswandel. Auf diese Weise verwandelte sich der Wolf, der vor einiger Zeit noch das Böse in der Natur und im Menschen verkörperte, sozusagen über Nacht in ein Symbol der wiedergeborenen, unberührten Natur.
Allerdings können wir nicht unser ganzes Leben in der Kulisse eines Walt-Disney-Films verbringen, in dem alle Wölfe liebe kleine Welpen sind, die nur ab und zu mal eine Maus verzehren und wo jede Person, die ein Tier umbringt, zwangsläufig ein zwielichtiger Geselle ist. Die Realität, so wie wir sie augenblicklich sehen, ist nicht nur weitaus interessanter als dieses Klischeebild, sondern stellt uns auch vor noch weit größere Herausforderungen.