Das Unglück der Selbstreferenz
Baecker: Watzlawick war ein extrem raffinierter Wissenschaftler und ein extrem raffinierter Geschichtenerzähler. In der Geschichte geht es ja gar nicht unbedingt um Wirklichkeit, sondern es geht darum, wie man sich in einen Zweifel an etwas verstricken kann, ohne daraus wieder herauszufinden. Und natürlich wusste Paul Watzlawick, warum er diese Geschichte erzählte, nämlich er erzählte diese Geschichte, weil es um das Unglück der Selbstreferenz geht, das heißt den Verzicht darauf, mal für eine Sekunde anzuhalten und zu überlegen: Könnte ich vielleicht mal meine Annahme, warum dieser Nachbar mir so entgegengekommen ist, überprüfen, bevor ich mich so hineinsteigere? Die Pointe daran ist allerdings nicht die, dass Watzlawick nun dafür wirbt, grundsätzlich mit offenen Augen durch die Wirklichkeit zu gehen und jeden Zweifel für sich zu behalten, weil er eben solche gefährlichen Selbstverstrickungen hat, sondern im Gegenteil, er wirbt dafür, diesen Zweifel zu dosieren, also durchaus im Hinterkopf zu behalten - es könnte sein, dass der Nachbar nicht bereit ist, mir diesen Hammer zu leihen -, aber zunächst einmal zu überprüfen, ob die Annahme überhaupt stimmt. Und ich glaube, darin stecken nach wie vor viele Gründe, warum es sich lohnt, Watzlawick zu lesen, und darin steckt auch vieles von dem, was wir heute wissen müssen. Nämlich: Wirklichkeit ist nichts, was uns pur gegeben ist, sondern was immer aus dem Wechsel zwischen Annahmen auf der einen Seite und Beobachtungen auf der anderen Seite entsteht, und beide haben etwas möglicherweise Illusorisches. Meine Annahmen können täuschen, meine Beobachtungen können täuschen, ich habe aber nichts anderes als beides und vor allem den Wechsel zwischen beidem, um meiner Wirklichkeit für den Moment auf die Spur zu kommen.
Kaspar: In Ihrem Essay im Merkur beschreiben Sie, wenn ich es richtig verstehe, ja schon so etwas wie eine Krise der Wirklichkeit oder unseres Wirklichkeitsbezugs. Und Sie greifen sehr weit zurück, also noch viel weiter in der Geschichte der Philosophie als bis zu Watzlawick, nämlich bis in die griechische Antike. Eines der bekanntesten Motive aus dieser Zeit ist ja das Höhlengleichnis von Platon. In dem Dialog Politeia, in dem Platon dieses Höhlengleichnis schildert, beschreibt Sokrates seinem Gesprächspartner Glaukon, wie Menschen als Gefangene in einer Höhle sitzen.
"In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, sodass sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen [...] Licht aber haben sie von einem Feuer, welches [...] hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen [...] sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen."
Die Wirklichkeitsauffassung hinterfragen
Kaspar: Also die Situation ist, die Menschen sitzen mit dem Rücken zu einer Art Kasperltheater. Über den Rand der Mauer, von der Sokrates hier gesprochen hat, werden Nachbildungen von Menschen und Tieren, irgendwie Puppen in die Höhe gehalten. Das Feuer strahlt diese Puppen von hinten an und wirft ihre Schatten wie ein Filmprojektor über die Köpfe der Menschen hinweg an die Höhlenwand, sodass vor den Augen der Menschen so eine Art Schattentheater, oder wenn man will, ein Lichtspiel zu sehen ist. Aber die Wirklichkeit selbst, und das ist ja etwas, was Sie in Ihrem Text ganz stark machen, die Wirklichkeit selbst entzieht sich.
Baecker: Man vergisst bei dieser Parabel immer die Leute, die die Gerätschaften hin und her tragen. Man müsste mal nach deren Wirklichkeitsauffassung fragen. Das ist eine hochgradig raffinierte Parabel, die Platon, aus der heutigen Sicht formuliert, im Wesentlichen deswegen in die Welt gesetzt hat, weil er Leute, also seine Zuhörer, seine Gesprächspartner auffordern, einladen wollte, der Art und Weise, wie Wirklichkeitseindrücke zustande kommen, einfach mal nachzugehen. Ihr nicht mit einem beruhigten oder vielleicht sogar panikartigen Evidenzgefühl entgegenzukommen, dieser Wirklichkeit, sondern zu fragen, warum denke ich jetzt dieses, warum glaubte ich jenes zu sehen, warum reagiere ich so. Das ist eine Frage, die von Platons Höhlengleichnis bis zu Descartes‘ Meditationen bis zu Kants Kritik der reinen und der praktischen Vernunft und vor allem bis zu Husserls Bewusstseinsphilosophie die Philosophie beschäftigt hat. Der springende Punkt ist auch hier wieder der, dass der Art und Weise - und das ist die Watzlawicksche Frage -, dass der Art und Weise, wie Wirklichkeit konstruiert werden soll, nachgeforscht wird, ohne damit per se, von vornherein die Annahme zu verbinden, dass wir immer schon in Illusionen unterwegs sind. Im Gegenteil, die Auffassung ist, wir leben in der Wirklichkeit, die uns gegeben ist. Für die Leute, die in der Höhle sitzen und sich diese Schattenbilder anschauen, wie wir heute vor unseren Fernsehgeräten oder im Kino, ist das, was sie sehen, die Wirklichkeit. Und sie haben gar keinen Grund, daran zu zweifeln. Der Trick ist, sie aus dieser Naivität herauszuholen, einen Moment gleichsam aus dem Rahmen heraussteigen zu lassen und zu schauen, wer bin ich eigentlich, dass ich das und das von der und der Wirklichkeit glaube. Es geht nur um das Setzen eines Zweifels und um die Aufforderung, überprüf doch mal, wie du jetzt zu diesem Eindruck kommst. Wenn ich das noch sagen darf, die Pointe dabei ist natürlich, dass wir sofort auf dem Schlauch stehen, dass wir sofort nicht mehr wissen, wie soll ich das denn überprüfen, und dann sagen okay, ich drehe mich mal um, oder ich denke morgen noch mal drüber nach oder ich frage meine Partnerin, was sie davon hält. Und wir kommen auf mehr oder minder hilflose Reaktionen, die aber, und das ist jetzt wieder Watzlawick, die einzigen Reaktionen, die einzigen Hilfestellungen, die uns dabei helfen können, unseren Zweifel zu überwinden, sind. Das heißt, wir betten uns in die Praxis ein, in der wir sowieso leben.
Irritationen durch Sinnesdaten
Kaspar: Es hat mich überrascht, was Sie dann in Ihrem Essay daraus machen, denn Sie schreiben ja, gerade die Tatsache, dass nach dieser Geschichte, wie sie uns da geschildert wird, es keinen direkten Kontakt mit der Wirklichkeit, keinen direkten Zugriff gibt, gerade dadurch werden wir frei oder werden Philosophen und Forscher frei zu spekulieren, die Wirklichkeit zu erforschen, zu erproben, zu gestalten. Anderenfalls, wenn sie sich offenbaren würde, dann, schreiben Sie, wären wir quasi gefesselt oder wären wir festgenagelt in einem Ah und Oh des Moments, in dem man nur staunen kann und sonst nichts.
Baecker: Ja. Ich meine, wenn man drüber nachdenkt, wie unsere mentale Wirklichkeit, also die Wirklichkeit, die wir bewusst vor Augen stehen haben, zustande kommt, dann kann die ja nur in unserer Gedankenwelt zustande kommen. Jetzt frage ich Sie, haben Sie schon mal mit Ihren Gedanken rausgedacht aus Ihrem Kopf, oder haben Sie schon mal irgendeine Figur - das Nachdenken über ein Fernsehgerät, eine Tasse Wasser, einen Kugelschreiber aus der Wirklichkeit in Ihren Kopf hineingeholt? Mit anderen Worten, Sie können gar nicht anders, wenn Sie denken, als in Ihrem Kopf eingeschlossen in den Schädel, eingeschlossen in die mentalen Strukturen Ihres Bewusstseins zu denken. Und das, was man im 19. Jahrhundert in der Neurophysiologie geradezu atemlos staunend und atemlos erschrocken entdeckt hat, war diese Geschlossenheit, die Fähigkeit der Gedanken, auf Gedanken zu reagieren. Die schwierigste Figur, die uns das 19. Jahrhundert auf das Tablett gelegt hat, ist: Nur die Geschlossenheit des Bewusstseins, die sich selbst unterbricht anhand der Irritationen durch Sinnesdaten, ist die Voraussetzung dafür, dass wir so etwas wie eine Wirklichkeitsauffassung erwerben können. Ich kenne viele Wissenschaftler, die 20, 30, 40 Jahre, angefangen mit Helmholtz zum Beispiel, 30, 40 Jahre ihres Lebens darüber meditiert haben, wie das eine oder das andere der Fall sein kann. Und die meisten haben es nicht geschafft. Der Gedanke, dass wir in der Lage sind, Wirklichkeit zu sehen und sie von außen nach innen zu holen, ist für uns so stark, dass wir daraus überhaupt nicht aussteigen können.